Berlin - und die Folgen
Als ich Mitte Mai 1969 mit meiner Reisetasche und mühsam beim W’havener Jadedienst erarbeiteten 191.60 DM im Portemonnaie am Flughafen Tempelhof stand, war mir klar, dass kein Zuckerschlecken vor mir lag. Aber was bedeutete das schon im Vergleich zu der Tatsache, endlich FREI zu sein!?! Ich fand Unterkunft in einer Kreuzberger Fabriketage nahe dem berühmten Kottbusser Tor (Kotti). Deren Bewohner waren ausschließlich Leute aus meiner Heimatstadt, die mir vorübergehend Unterkunft gewährten. Ich geriet voll in die alternative Szene und lernte Leute kennen, von denen ich bisher nur in der Zeitung gelesen hatte: Dichter, Maler, Musiker und andere Künstler, Politaktivisten, Deserteure, ja sogar Terroristen. Und nicht wenige Psychofälle.
Lernte ganz neue Bücher und Musik kennen. Ich wurde – in Maßen – politisiert, Demonstrationen wurden mein täglich Brot. Leider musste ich nach ein paar Monaten aus der Kommune ausziehen und begab mich auf Wohnungssuche. Schließlich fand ich eine Eineinhalbzimmerwohnung in der Dresdener Str. 16, Hinterhof, Seitenflügel, 2. Stock. Obwohl ich jeden Groschen dreimal umdrehte, waren meine Ersparnisse bald verbraucht. Einen Hausstand anzuschaffen, auch für eine Bruchbude mit Außentoilette, wie die meine, kostete Geld. Also hieß es, sich Jobs zu beschaffen. Anfangs lief es noch ganz gut, meine Freunde besorgten mir welche. Ich erinnere mich an den Verlag von Boye Kuhlmann, wo einer von ihnen als Lagerarbeiter tätig war. Irgendwann landete ich beim Bodensatz des Berliner Jobmarktes: Schnelldienst des Arbeitsamtes am Beusselmarkt. 40 DM am Tag. Oder, noch schlimmer: Sklavenhändler, vornehm Ladedienste genannt. Nach kurzer Zeit wurde meine Bruchbude zur Anlaufstelle für Wilhelmshavener Jugendliche. Zeitweise wohnten acht Leute bei mir. Alle waren Kiffer und auch anderen Drogen wie LSD nicht abgeneigt. Es dauerte nicht lange, bis ich Mitglied der Drogenszene wurde. Herrliche Zeiten!
Irgendwann entschloss ich mich, eine Lehrstelle als Speditionskaufmann zu suchen, um meine Berufsausbildung abzuschließen. Bei Schier, Otten & Co. wurde ich fündig. Nach einem Jahr war es geschafft. Jahrgangsbester! Ich hatte jedoch kein Interesse an einem Job in der Branche. Ich verließ Kreuzberg und zog in den Wedding. Im September 1970 wurde ich Zusteller auf Postamt 19, später auf 12. Mein Ziel war der Zweite Bildungsweg. Mit der Aufnahme am Berlin-Kolleg (1972) war es geschafft.
Ich bekam BAFöG und konnte mich der studentischen Arbeitsvermittlung TUSMA anschließen. Die Jobs waren gut bezahlt und meist nicht allzu anstrengend: Nachhilfe, Diplomarbeiten tippen usw. 1974 machte ich Abi und begann Geographie an der Freien Universität Berlin (FU) zu studieren. Ich spezialisierte mich auf Tourismus und schrieb meine Diplomarbeit in Sri Lanka.
Ich war ein unbegabter Student und es war abzusehen, dass ich das Studium nicht in der Regelzeit abschließen würde – BAFöG ade! Was tun? Wovon in Zukunft leben? Die Antwort erhielt ich auf meiner ersten Reise nach Südostasien: Einen Handel mit Waren aus Asien aufziehen! Es begann auf dem Flohmarkt und endete am Berliner Kudamm, wo wir 1983 unser erstes Geschäft eröffneten. Doch zuvor hatte ich die härteste Prüfung meines Lebens zu bestehen. Getreu dem Motto: Wenn’s kommt, dann kommt‘s ganz dicke! Im April 1983 fiel ich durch die letzte Diplomprüfung an der FU. Das bedeutete: Strafexkursion in die Alpen. Hinzu kamen Ladeneröffnungsstress und eine anstrengende Einkaufstour nach Asien. Als ich von der Tour zurückkam, war meine Mutter gestorben. Zu allem Überfluss wurde noch das Haus saniert, in dem ich wohnte. Inklusive Umzug. Der dickste Hammer war jedoch, dass meine Freundin, mit der ich drei Jahre zusammen war, während meiner sechswöchigen Reise einen anderen geheiratet hatte. Ich war echt verwundert, dass mein Haus nicht abbrannte oder ich einen schweren Unfall erlitt. Harte Zeiten in Berlin! Ende des Jahres war ich wieder obenauf. Never give up! Unser Laden wurde ein voller Erfolg, vor allem, seitdem wir zum Bahnhof Zoo umgezogen waren. 1996 verkaufte ich meinen Anteil an meine Geschäftspartner und wanderte nach Myanmar aus.