Kassetten
Bereits beim ersten Besuch in Singapore war ich auf der Bugis Street. Dort ließen sich Transvestiten von Touris begaffen. Da waren mir Stände aufgefallen, die Musikkassetten zu ausgesprochen günstigen Preisen verkauften. Zwei Mark für die aktuellsten Alben: Meat Loaf, Supertramp, 10 CC – you name it, they’ve got it! Super! Passte auch hervorragend zum ‚Walkman’, der damals aufkam. Die Qualität war erstaunlich gut. Vor allem die Marke RC hatte es mir angetan. Andere waren nicht so gut (z. B. die mit dem Fußabdruck). Aber bei solchen Preisen schaute man nicht so genau hin. Auch die Freunde in der Heimat waren begeistert. So entschloss ich mich, mir die Sache beim nächsten Besuch dort näher anzuschauen. Denn die Kassetten schienen mir eine wertvolle Bereicherung unseres Warenangebots zu sein. …
So lernte ich im September 1979 einen gewissen Jian Yuen Wen kennen, der eine Firma namens Yong Wah betrieb. Er behauptete, dass er der Hersteller der RC-Kassetten war. Glück muss man haben! Und so rief ich gleich in Berlin bei von Hin und Zurück an. Der sollte mir 2.000 Mark für die erste Kassettenlieferung schicken. Nicht mal eine Mark sollte jede kosten! Die Auswahl war riesig! In meinem Kopf reiften schon die Pläne. Wir bauen eine eigene Produktion auf und kopieren alle deutschen Gruppen, dass die Schwarte kracht. Die waren im Angebot gar nicht vertreten: Das Brufelwolf-Label erobert den deutschen Markt! Yong Wah lud mich ganz fürstlich zum Essen ein – er war begeistert von seinem neuen Großkunden. Merkwürdigerweise servierte er mir einen Fischkopf: Zum Glück war mir bekannt, dass der bei den Chinesen eine Delikatesse war. Sonst hätte ich mich wirklich auf den Schlips getreten gefühlt … Nun kann man unmöglich zweitausend Kassetten im Handgepäck mitschleppen. Daher beschlossen wir (d. h. mein Freund/Partner Yves und ich), die per Luftfracht zu schicken. Einfach mal probieren! Denn wie wusste es Hubert aus der Werbung? Swing ist frech und frech kommt weiter! Etliche Kassetten nahmen wir im Handgepäck mit. Falls was schief ging, wollten wir wenigstens ein paar Erinnerungstücke haben. Diese breiteten wir auf dem Bett im Shang Onn Hotel in der Purvis Street in (ein paar Schritte vom Raffle’s entfernt, getreu der Devise: „If you can’t stay at the Raffle’s, stay close to the Raffle’s!“) – und schossen ein Foto (s. o.), das uns mit den Früchten unserer kriminellen Aktivitäten zeigte … Und tatsächlich gab es keine Probleme.
Wir verzollten die Dinger ganz offiziell am Flughafen in Tegel und bezahlten brav die Einfuhrumsatzsteuer. Die wir uns später erstatten ließen. Der Verkauf konnte starten. Offenbar interessierte sich der Zoll nicht die Bohne für das Copyright. Klasse! Und in Berlin ging die Post ab: Wir verkauften die Raubkopien (Selbstkostenpreis eine Mark zwanzig) für zehn Mark auf dem Flohmarkt. Bei Abnahme größerer Mengen gaben wir Rabatt. Schnell stellten wir fest, dass wir nicht die Einzigen waren. Ein Schönling im Pelzmantel war offenbar auch in Singapore gewesen. Er machte uns Konkurrenz, indem er seine Kassetten zum selben Preis wie wir verkauften. Und würdigte uns keines Blickes und schon gar keines Wortes! Als wir jedoch den Preis auf neun Mark senkten, kam er tatsächlich an unseren Stand. Er erklärte uns, dass es doch unsinnig sei, sich einen Preiskampf zu liefern. So bildeten wir ein Preiskartell und die Geschäfte liefen wie geschmiert weiter. Stets schwebte allerdings das Damoklesschwert der GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungsrechte, Copyright-Wächter der Musikindustrie) über unserem Erfolg. Falls die das spitzkriegten, hätten wir ein massives Problem. Der Schönling behauptete, dass er Gebühren bezahle. Damit sei er auf der sicheren Seite. Daraufhin schrieben wir an den Laden und deuteten an, dass wir Kassetten aus Singapore gekauft hätten. Ob es o.k. sei, wenn wir die Gebühren nachzahlten? Swing-Hubert ließ grüßen! Sie baten uns, ihnen ein paar Exemplare zwecks Prüfung zu schicken. Aber das ließen wir dann doch lieber. Denn inzwischen überschlugen sich die Ereignisse.
Unser Konkurrent stand immer früh auf der Matte, während wir später kamen. Offenbar hatte er geschwindelt, was die Gebühren anbetraf. Unsere Faulheit hingegen rettete uns. Wir waren noch am Auspacken. Da kamen ein paar Leute von der GEMA und der Firma Warner Bros. an seinen Stand. Die kauften drei Kassetten bei dem armen Kerl. Anschließend holten sie die Polizei. Er durfte einpacken und es wurde Anzeige erstattet. Wie wir hörten, wurde er zu 1.800 Mark Geldstrafe verurteilt. Verständlicherweise traute er sich fortan nicht mehr auf den Markt: Wir waren die Kings! Allerdings hieß es, in Zukunft vorsichtig zu sein! Strafe pro Stück ca. 600 Mark. Macht bei einem Gesamtbestand von knapp zweitausend Stück schlappe einskommazwo Millionen! Gar nicht mal so wenig … Unsere neue Stellung als Kassettenkönige vom Markt nützte uns allerdings nicht viel. Denn wir trauten uns nicht mehr, die heiße Ware anzubieten.
Der Absatz im Freundes- und Bekanntenkreis vermochte die Verluste aus dem ‚regulären’ Verkauf bei weitem nicht wettzumachen. Der Stiefvater meiner Tochter nahm mir eine ganze Menge Kassetten ab. Die verrechneten wir mit den Alimenten. Ganz gut gespart dadurch … Das Problem jedoch blieb: Wir saßen auf jeder Menge totem Kapital, das wir dringend für unsere Expansion benötigten. Immerhin hieß es, den Einbruch auf dem Kassettensektor kompensieren. Auch die GEMA meldete sich wieder. Wir sahen uns gezwungen, die Dinger um jeden Preis loszuwerden – zumindest vorläufig! Tausend Lösungen wurden erdacht und wieder verworfen. Yves, der als Empfänger der Sendungen fungierte, wollte schon freiwillig ins Gefängnis gehen! Er war so verzweifelt, dass wir die Kassetten aus dem Zentrallager wegschafften, um ihn von unbedachten Schritte abzuhalten.
Schließlich einigten wir uns darauf, die Ware an den Absender zurückzuschicken. Damit die Zahl auch stimmte, kauften wir mehr als hundert Fips-Asmussen-Kassetten hinzu, die in der Zeitung Zentralmarkt (endlich mal was Sinnvolles in diesem Käseblatt gefunden!) sehr günstig angeboten wurden. Und dann schickten wir die Sendung zurück! Falls die GEMA noch mal nachfragen sollte, würden wir ihnen folgende Geschichte auftischen: Unser lang gehegter Verdacht hätte sich bestätigt: Man hatte uns tatsächlich Raubkopien verkauft. Wir hätten das Recht auf Mängelrüge geltend gemacht und die Dinger wieder an den Verkäufer zurückgeschickt. Konnte doch kein Schwein mit rechnen, dass dieser Chinese ein Krimineller war … Und die Regierung dort schaute zu! Danach fühlten wir uns halbwegs sicher. Bis eine Benachrichtigung vom Zoll eintraf. Derzufolge sei für uns eine Warensendung aus Singapore angekommen: Panik! Yong Wah verweigerte die Annahme und so kam die Sendung zurück! Nun waren wir so schlau wie zuvor und harrten ergeben der Dinge, die da kommen würden. Doch es blieb ruhig: Keine GEMA, kein Zoll, keine Polizei. Niemand interessierte sich für unsere illegale Ware!
Wir lagerten sie still und leise wieder ein. Und hofften, dass wir sie irgendwann, wenn Gras über die Sache gewachsen war, loswerden könnten. Doch wir mussten gar nicht so lange warten. Irgendwann an einem Samstag sprach mich auf dem Flohmarkt ein jüngerer Kollege an. Er fragte mich, ob wir noch die Kassetten hätte. „Kassetten? Weiß nicht, wovon du sprichst!“ wich ich aus. Wir quatschten ein bisschen und irgendwie gewann ich das Gefühl, dass der Bursche harmlos sei. Er bot mir an, die ganzen Dinger auf einen Schlag zu übernehmen. Alle! Es war mir unmöglich, dieser Versuchung zu widerstehen! Abends zählten wir die Kassetten: Es waren weit über tausend, die er zum Preis von je drei Mark pro Stück abnehmen wollte. Wir vereinbarten die Übergabe am Abend. Die Sache ging supergeheim über die Bühne, ich stellte mich unter dem Tarnnamen Hans vor. Der mutmaßliche Käufer wohnte in der Brüsseler Straße nahe der Kneipe Nordpol. Gar nicht so weit von meiner Wohnung entfernt. Wir packten die Horden in den VW meiner Freundin Erbse und fuhren zu der Adresse. Ich schärfte ihr ein, mit laufendem Motor vor dem Haus zu warten. So könnten wir uns im Notfall schnellstens absetzen. Falls ich in einer halben Stunde nicht zurück war, sollte sie die Polizei verständigen. Die mich – hoffentlich lebend! – befreien sollte. Trotz ihrer Angst willigte sie ein; ich stieg aus und klingelte an der Tür.
Mein Kollege kam runter und half mir beim Hochtragen der Horden in seine Hinterhofwohnung. Oben erwarteten mich drei Typen und eine Frau. Er stellte mich vor („Das ist der Hans … “). Sie zählten die Kassetten und nahmen Stichproben vor.
Dann ging es ans Bezahlen. Wer beschreibt mein Erstaunen, als sie die gesamte Summe (mehrere tausend Mark!) in Hartgeld bezahlten. Offenbar waren das professionelle Automatenmarder! Na, im Grunde genommen ja auch egal. Zumal sie mir ein Zählbrett zur Verfügung stellten, das meine Arbeit erheblich erleichterte. Alles stimmte bis auf den Pfennig genau; ich packte die Münzen in eine Plastiktüte und verließ die unbehagliche Stätte. Im Auto ertönte ein leises Poltern: Die Steine, die ihr vom Herzen gefallen waren! Anschließend gönnten wir uns auf Firmenkosten ein üppiges Mahl beim Tientsin-Chinesen in der Müllerstraße: Wir hatten es uns verdient! Am nächsten Sonnabend schlenderten wir über den Markt. Unser Nachfolger im Amt des Kassettenkönigs verkaufte eifrig seine neuen Kassenschlager. Wir nickten ihm anerkennend zu und gingen weiter. Die Dinger waren wir elegant losgeworden. Und hatten noch einen guten Gewinn dabei erzielt! Drei Wochen später verschlug es mich wieder an seinen Stand. Allerdings lagen dort keine Kassetten. „Wow! Alle verkauft? Herzlichen Glückwunsch! Sag’ Bescheid, wenn du Nachschub brauchst!“ sagte ich zu ihm. „Hör bloß auf mit den Kassetten!“ entgegnete er „Die GEMA hat mich gepackt und alles beschlagnahmen lassen. Außerdem habe ich ein Gerichtsverfahren am Hals!“. Das tat mir leid für ihn, aber so ist es nun mal. Beim einen klappt’s und beim anderen nicht! Was will man machen? Noch lange danach fiel mir die eine oder andere der bewährten RC-Tapes beim Aufräumen in die Hände – wirklich gute Qualität … Das durch den Kassettenverkauf erworbene Kapital investierten wir in gefälschte Uhren der Marken Rolex und anderer. Mancher lernt’s nie.