Das Stadttheater und ich ...

Das Stadttheater, im Vordergrund der Marabu, der von der Gremmel-Bande umgeworfen wurde ...

Schon früh begann meine Leidenschaft für das Theater: In der ersten Ausgabe der Guten Saat (2. Schuljahr) fand sich die Geschichte von ‚Kasper in der Schule‘. Wie wir alle hatte auch der keine Lust darauf und musste vom ‚Schutzmann‘ (Polizisten) dorthin gebracht werden. Damals schien uns das völlig an den Haaren herbeigezogen. Wer konnte ahnen, dass dies gegen Ende des 20. Jahrhunderts für sogenannte ‚Kinder mit Migrationshintergrund‘ eher die Regel als die Ausnahme sein würde? Damals war die Welt jedenfalls noch in Ordnung: Selbst die Lagerbutscher kamen ohne Murren. Die wollten schließlich auch mal was werden. Bald kam Kasper leibhaftig zu uns in die Volksschule an der Peterstraße. Ein Puppenspieler führte uns Knirpsen für 50 Pfennig seine Künste vor. Kasper, Seppel, Gretel, die Großmutter, der Polizist und das Krokodil waren die Helden dieser Aufführungen. Obwohl ich bis heute nicht verstehe, was dieses Reptil in der Norddeutschen Tiefebene zu suchen hat. Während diese Aufführungen für die meisten Klassenkameraden wohl folgenlos blieben, entwickelte sich bei mir eine tiefe Leidenschaft für das Theater an sich und das Figurentheater im Besonderen.

Genau das Buch hatte ich! Illustration von H. Baluschek

Das Stadttheater an der Peter-/Ecke Virchowstraße war in den 50er und 60er-Jahren – neben der unweit davon gelegenen Stadtbücherei – das kulturelle Zentrum der Jadestadt. In meiner Entwicklung spielte es eine wichtige Rolle. Der erste Besuch dort liegt so weit zurück, dass selbst ich mit meinem Supergedächtnis mich daran nur schemenhaft erinnere – vermutlich wurde ‚Peterchens Mondfahrt‘ gegeben. Der Vater meines Kumpels Manfred war dort als Schauspieler tätig. Gerüchten zufolge wurde Manfreds Bruder damals in die Kanone gesteckt und flog in das hinter den Kulissen aufgespannte Netz!

Gleich geht's los!

Eine weitere Begegnung mit dem Theater erlebte ich in der ehemaligen Torpedoschule der Kriegsmarine, in der nach dem Krieg die englische Prince-Rupert-School – ein Internat –  untergebracht war. Die Schüler waren Kinder von Angehörigen der britischen Besatzungsmacht. Wo früher den Torpedos der kürzeste Weg zum Feindschiff beigebracht wurde, lernten jetzt englische Kinder Shakespeares Sonetten auswendig. Die Schüler liefen im tiefsten Winter in knielangen kurzen Hosen herum, ihre Beine waren daher meist rot oder blau verfärbt. Darüber einen Daffelkot, der später auch bei den W’havener Schülern populär wurde. Das schien sie aber nicht weiter zu verdrießen, denn eigentlich waren sie immer ganz guter Dinge. Sie konnten gut Fußball spielen und hatten – eine Theater-AG. Gelegentlich luden sie die Schüler der W’havener weiterführenden Schulen ein, ihren Theatervorführungen beizuwohnen. So sahen wir einstens dort Kleists ‚Zerbrochenen Krug‘ – übrigens das einzige Mal, dass ich die Anlage betreten durfte.

Das Wappen der Prince Rupert School - übrigens angelehnt ans Nazi-Stadtwappen
Freiherr-vom-Stein-Schule: Stätte des Grauens

Aber dann ging’s los: Auftritt mit dem Schulchor im Stadttheater! Mein Organ war gut genug, um in der dritten Stimme mitzubrummen. Unser Musiklehrer in der Freiherr-vom-Stein-Schule war nebenamtlich Vorsitzender des Männergesangsvereins ‚Heim‘ (oder war es die ‚Rüstringer Liedertafel‘?). Wie auch immer, im Rahmen einer Aufführung im Stadttheater durfte ich in der hintersten Reihe stehen. Wer hätte damals gedacht, dass jener unscheinbare Sänger im letzten Glied eines fernen Tages in seiner Wahlheimat Myanmar (Burma) als Karaoke-Superstar ‚Friesische Nachtigall‘ zu Ruhm und Ehren gelangen würde …?

Für uns Schüler einer gehobenen Lehranstalt gehörten regelmäßige Visiten dort ebenso dazu wie der Besuch der Tanzschule. Von den Aufführungen ist mir letztendlich nur ‚Wallensteins Lager – Die Piccolomini‘ im Gedächtnis geblieben, aber diese hat meinen Theatergeschmack – wenn man das denn mal so nennen darf – fürs Leben geprägt: Zu einem Stück von Schiller gehören Stulpenstiefel und Schwerter! Wallenstein darf einfach nicht mit Aktentasche und Anzug daherkommen wie ein Bürohengst! Und womöglich auf die Bühne pinkeln. Oder gar mit Max Piccolomini knutschen! Da helfen dann selbst Stulpenstiefel nicht mehr, und ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass hier alles in den Schmutz gezogen wird, was uns einst heilig war! O. k., man wusste ja schon aus der Schule, dass Wallenstein kein Kind von Traurigkeit war. Selbst wer alles über den Feldherrn je Gelernte vergessen hat, kennt doch Schillers berühmtes Zitat aus ‚Wallensteins Lager‘: ‚Spaß muss sein, sprach Wallenstein und schob die Eier mit hinein!‘. Aber mal unter uns: Was soll der Quatsch? Wo bleibt da unsere ostfriesisch/deutsche Hochkultur?

Das Wilhelmshavener Stadttheater ist in der im Krieg stark zerstörten ehemaligen Marinekommandantur untergebracht. Wo einst hochwichtige Admiräle Weltflottenpolitik schmiedeten, fanden in den 60er-Jahren zahlreiche Dropouts aus der Marktstraße gut bezahlte Jobs als Kulissenschieber und Statisten. Was hatte dieses Gebäude schon alles gesehen! In den Kriegsjahren eilten schneidige Ordonnanzen mit streng geheimen Depeschen durch genau jene Flure, in denen zwanzig Jahre später Bulle und Latte durch die Gegend schlappten. Das renommierte Theatercafé wurde gar von einem Hippie und ehemaligen Dekorateur (K. H. Rosskamp, unter Eingeweihten als Clarence bekannt) mit Pferdeschwänzchen übernommen, der (aber ‚picobello gekleidet‘, wie selbst Frau Sahnezwerg anerkennend zugeben musste) den Kaffee servierte. Uniformen mit messerscharfen Bügelfalten wichen legeren schwarzen Rollkragenpullis, und der über dem Eingangsportal prangende Reichsadler mit dem Hakenkreuz wurde gleich nach Kriegsende demontiert und durch die Inschrift ‚Will der Herrgott dich bestrafen, schickt er dich nach Wilhelmshaven‘ ersetzt. Entwicklungen, die ja durchaus zu begrüßen sind!

Der Vater meines Freundes Brusing arbeitete beim Arsenal, war jedoch vorher – zumindest behauptete das der Sohn – Musikdirektor beim Stadttheater gewesen. Dort war er für seine Schrullen berüchtigt: So verlangte er, dass mitten im kalten Winter die Fenster seines Büros, in dem auch seine Untergebenen saßen, den ganzen Tag lang geöffnet sein mussten, ‚… damit frische Luft hereinkam’. Irgendwann hatte es der Intendant satt und warf den schrulligen Musikdirektor hinaus, der fortan als Angestellter beim Arsenal seine Groschen verdiente – aber der Musik blieb er zeitlebens eng verbunden … Beim Marinearsenal konnte er (der äußerlich etwas Ähnlichkeit mit Stefan George hatte) seiner musikalischen Bestimmung nicht mehr folgen. So verlegte er seine Bemühungen in die heimische Wohnung in der Weserstraße, wo er mit dem Sohn und einer alten Frau lebte, die Oma genannt wurde. Wenn auch der Filius meist in seiner sturmfreien Bude unterm Dach zu finden war. Am Flügel konnte sein Alter ganz in seine geliebte Musik eintauchen, dort entstanden bedeutende Kompositionen wie ‚Mein Hund an mich’, das er in einem Moment tiefer Verbundenheit mit seinem mopsgedackelten Windhundspitz geschrieben hatte. Da es nur im engsten Familienkreis gespielt wurde, sind musikalisch Interessierte auf die Berichte des Sohnes angewiesen, der das Werk als Mischmasch aus Beethoven, Mahler und Loussier analysierte. Die Mitwirkung des Tieres reduzierte sich darauf, dass es einmal hin und zurück über die Tasten lief.

Unsere feschen 'Blauen Jungs' - Hoch die Tassen!

In Berlin verlor ich für einige Zeit den Kontakt zu den Brettern, die die Welt bedeuten. Es gab Wichtigeres zu tun: Die Revolution und die Befreiung der Arbeiterklasse weltweit von ihren Fesseln stand nun im Mittelpunkt meines Lebens! Mitte der 70er-Jahre begann ich mit ausgedehnten Reisen, die mich um den ganzen Globus führten. Nun hieß es, die Völker der Dritten Welt in ihrem Kampf gegen Kolonialismus und Neokolonialismus zu unterstützen. Und auf diesen Reisen erwachte meine alte Leidenschaft zu neuem Leben. Das Figurentheater Südostasiens faszinierte mich vom ersten Augenblick an – zuerst allerdings aus rein monetären Beweggründen, wie ich ohne Umschweife zugeben muss. Ich begann einen schwunghaften Handel mit Stabpuppen und Schattenspielfiguren aus Indonesien sowie Marionetten aus Burma. Vor allem die Beschäftigung mit Letzteren nahm im Laufe der Zeit ungeahnte Ausmaße an und gipfelte in mittlerweile drei Büchern (darunter eine Dissertation) zu diesem Thema. Wer hätte damals beim Kasperletheater in der Volksschule vorausgesehen, dass einer der jungen Zuschauer einst zum weltweit führenden Spezialisten für das burmesische Marionettentheater avancieren würde – mangels Konkurrenz, versteht sich …? Wohl keiner!