Die Russen kommen!

Frau, komm! Uri! Na sdrowje! Karacho! Plenni woina gutt!

Die Russen (auch ‚Der Russe‘ oder kumpelhaft ‚Der Iwan‘ genannt) waren der Schrecken unserer Kindheit und Jugend, das Feindbild der 50er und 60er-Jahre schlechthin. Alle R. trugen Pelzmützen und Mäntel, die aussahen, als würden sie entsetzlich kratzen. Ihre Augen standen unnatürlich eng zusammen, was vermutlich ihrer Grausamkeit zuzuschreiben war. Sie waren unmenschliche, gottlose Kommunisten, die unsere Brüder und Schwestern in der Ostzone unterdrückten. Sie wollten natürlich auch uns im freien Westen versklaven und begannen den Kalten Krieg. Wie sich nach dessen Ende herausstellte, waren sie noch teuflischer, als wir immer geglaubt hatten: Ihr Großangriff war am Wochenende geplant, wenn die Bundeswehr Urlaub hatte! Man stelle sich vor: Alle Kinder sind gerade auf dem Rückweg vom Café an der Ecke, die Schwarzwälder Kirschtorte in der Tüte. Man freut sich schon auf Lassie – und dann kommt der Luftschutzlarm! Tausend Gedanken schießen durch das gemarterte Kindergehirn: Wie war das denn noch mal mit den Sirenentönen bei der Luftschutzübung? Ist das nun ein kompletter ABC-Alarm oder vielleicht nur ein B-Alarm? Wo ist meine Aktentasche, der einzige wirksame Schutz vor einem Atomschlag? Natürlich daheim! Ebenso die Jod-S-11-Körnchen von Hansi! Kann doch kein Schwein mit rechnen, dass die ausgerechnet am Sonntag angreifen. Nackte Angst ergreift uns, der nächste Bunker ist auch weit – es ist vorbei! Zum Glück blieb uns dieser Albtraum erspart, aber eines konnten die R. erreichen: Sie setzten per Besatzungsverordnung durch, dass in unserer Stadt Ziehharmonikabusse eingesetzt werden mussten. Was sie davon hatten? Weiß ich auch nicht, aber es stimmt, denn ein zuverlässiger Klassenkamerad aus der Realschule hat es mir erzählt!

Natürlich hatten wir auch all die Geschichten der Heimatvertriebenen gehört. Wie die Russen das Wasser aus der Kloschüssel soffen und jeder Soldat seinen Gürtel mit zahllosen erbeuteten Weckern schmückte. Wenn man den Berichten Glauben schenken darf, konnte der Russe nur ein Wort Deutsch: URI! Das bedeutete: „Her mit der Uhr!“, denn Uhren müssen auf ihn eine ungeheure Faszination ausgeübt haben. Als dann versehentlich einer der Wecker losging, schoss der Iwan mit der MP das Klobecken kaputt! Benehmen ist halt Glückssache! Sie nahmen Frauen das Fahrrad weg und tranken pausenlos Wodka, dazu lallten sie „Na Sdrowje!“ (Prost!) – und wehe dem, der nicht mittrank: Den knallten sie ab wie einen Hund! Offenbar hatten aber selbst diese Tiere noch irgendwo einen menschlichen Funken in sich. Wenn sich alle aufregten über die neueste Schweinerei der Russen, dann gab es immer einen, der sie in Schutz nahm: „Der Russe an sich ist aber kinderlieb!“ – das konnte auch mein Opa von der Müllabfuhr bestätigen, bei dem russische Kriegsgefangene arbeiteten. Das war für uns Knirpse eine echte Beruhigung! Sie würden also zumindest uns verschonen! Und noch ein positiver Aspekt: Das eislaufende Ehepaar Protopopov erlöste uns von dem Kilius/ Bäumler-Terror unserer Mütter – seitdem sie die beiden auf den zweiten Platz verwiesen hatten, war das Interesse der Mütter weitgehend erloschen. Danke Oleg, danke Ludmilla!

Wilhelmshaven war natürlich besonders interessant für die Russen. Denn dort lag unsere gefürchtete Kriegsflotte, die Bundesmarine! Der Vadder von Bernd Vogler hat mal einen Spion erwischt.

Ihm fiel auf, dass nahe seinem Arbeitsplatz auf dem Gelände des Arsenals ein alter Mann täglich an derselben Stelle den Wasserstand maß und aufschrieb. Zum Glück konnte man dem Kerl das Handwerk legen, sonst wäre womöglich ein russisches U-Boot unbemerkt in den Hafen geschlüpft und hätte wie weiland der Weltkriegsheld Kaleun Prien in Scapa Flow unsere halbe Flotte versenkt! In der Wohnung des Mannes stellte man einen Kurzwellensender sicher!

Auch bei der Anhörung der Kriegsdienstverweigerer spielten die Russen eine wichtige Rolle. Frage: „Angenommen, Sie gehen mit Ihrer Freundin (wahlweise auch Mutter oder Schwester) im Wald spazieren. Rein zufällig haben Sie eine Pistole dabei (kann ja mal vorkommen!). Plötzlich springen sechs Russen aus dem Gebüsch und fallen über Ihre Freundin her … Was machen Sie?“. Antwort (multiple choice): 1. „Ich vergewaltige die Russen mit vorgehaltener Pistole nacheinander.“ 2. „Ich knall’ die Schweine ab!“ 3. „Ich bedrohe die Russen mit der Pistole und versuche, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten!“ 4. „Ich freue mich für meine Freundin: Sie ist Nymphomanin!“. Ich ersparte mir diese Farce und zog rechtzeitige nach (West)-Berlin. Dessen Bürger waren aufgrund des Status der geteilten Stadt von der Wehrpflicht befreit. Auch konnte es nicht schaden, Zeuge Jehovas oder ein Homo zu sein; als letzter Ausweg blieb nur noch das Ableisten von Ersatzdienst. Vor diesen jedoch hatten die Behörden die berüchtigte Gewissensprüfung (s. o.) gesetzt … F. J. Degenhardt hat ihr mit dem Song ‚Befragung eines Kriegsdienstverweigerers‘ ein musikalisches Denkmal gesetzt.