Als Wilhelmshaven fast kommunistisch wurde…

Gründung des SJB

1968 – Die Welt in Aufruhr! Demonstrationen von jungen Leuten allerorten. In China wütete schon seit 1966 die Kulturrevolution. Auch in der westlichen Welt ging es hoch her. Der Vietnamkrieg und Hanoi Jane trugen das ihre dazu bei. Da durfte auch Wilhelmshaven, die Stadt, in der 1918 die deutsche Revolution ausbrach, nicht abseits stehen! Die Speerspitze der Bewegung war der SJB (‚Sozialistischer Jugendbund‘), in den späten 60er-Jahren das Sammelbecken junger linker Schlicktauer. Durch provokative Aktionen wie Störung beknackter ‚Traditionsveranstaltungen‘ der Marine und abstruse Leserbriefe an die WZ, in denen die DDR als beispielhaft für die BRD dargestellt wurde, gelang es dem Verein, in W’haven einen relativ hohen Bekanntheitsgrad zu erreichen. Einige seiner wichtigsten Kämpfer gehörten zu meinem Bekanntenkreis aus der Realschule und aus der Kaffee-Brandt-Clique. Darunter waren der vom neuapostolischen Glauben abgefallene,

leider sehr früh verstorbene Günner Janßen (5. v. l.), von Hin und Zurück, Peter Pyrchalla, Fritz Gammler, Günner Dick* (2.v.l.), Gernot Borreck und nicht zuletzt Bolle (3. v.l.), der sich als eine W’havener Miniausgabe von Fritz Teufel aufspielte. Für viele Bürger der Stadt waren sie Vorboten des Umsturzes. Bei einigen Mädchen mit zweifelhafter Reputation, so z. B. Biggi II, waren die jungen Revolutionäre jedoch sehr populär – und darauf kam es schließlich an!

*Dicks wahrer Name war übrigens Wurst. Er hatte die längste Matte in der ganzen Stadt und wurde sogar von der WZ interviewt (‚… ich lebe frei und glücklich …‘). Später fielen ihm – wie so vielen von uns – die Haare aus. Der Rebell von damals, der nicht davor zurückschreckte, Abifeiern zu stören, wurde später ausgerechnet Direktor einer Schule! Ob er auch Störer des Saales verwies, ist nicht überliefert. (mglw. ist diese Geschichte eine Erfindung des Genossen Hin und Zurück!) 

Das Ende des SJB kam mit einer Attacke nationalgesinnter Rocker des Kreidler Klubs, in deren Reihen u.a. mein eigener Bruder, Tunte Remmers, Zwiebel und Peter Taubenuss standen. Sie stürmten dessen Hauptquartier in der Gökerstraße (aus dem später übrigens eine Reggae-Disco wurde). Aber die Gammler und Exis hatten wohl von einem Verräter einen Tipp bekommen und entkamen unversehrt durch ein Klofenster auf den Hinterhof. Einzige Ausnahme war Bolle, der als Letzter springen wollte. Während die Rockermeute schon durch die Eingangstür hereinstürmte, konnte sich der Genosse nicht entblöden, dieser ein trotziges ‚Ho, Ho, Ho Chi Min!‘ entgegenzuschleudern. Unglücklicherweise blieb er aber in dem engen Klofenster stecken, 

so dass ihn die Rocker erwischten und ihm ‚… ordentlich die Fresse polierten!‘, wie mein Bruder mir später stolz berichtete. Nach dieser Attacke begann in den revolutionären Gremien eine aufgeregte Diskussion: Waren die Angreifer denn nicht gerade diejenigen, deren Befreiung aus dem Joch des Kapitalismus unser Anliegen war? Oder war es ein Angriff des Lumpenproletariats? Oder gar eine Provokation der Staatsgewalt, die sich der etwas beschränkten Rocker bedient hatte, um der Bewegung zu schaden? Fragen über Fragen! Das Ergebnis dieser Diskussion war eine Briefaktion, mittels derer der Verein noch einmal versuchte, seine Reihen zu schließen. Wie folgender Brief aus meinem Privatarchiv belegt:

Sozialistischer Jugendbund Wilhelmshaven (SJB) 

Postanschrift: Günner Janssen, 294 Wilhelmshaven, Heppenser Str. 19.

An alle Genossen und Freunde des SJB: 

Liebe Genossen! Würde Mao tse-tung den SJB kennen, würde er sagen: ‚Der SJB ist ein Papiertiger!‘ Und er hätte recht. Denn wir haben uns nicht an das Prinzip gehalten, daß das Volk und nur das Volk die Triebkraft ist, die Weltgeschichte macht (Mao). Wir waren naiv und glaubten, im Alleingang einen ‚Bewußtwerdungsprozeß‘ in Gang bringen zu können, obwohl wir uns nicht darüber im klaren waren, an welchem Ort, zu welcher Zeit und bei welcher Gelegenheit wir welche Taktik anzuwenden haben.

Zudem waren wir uns nicht darüber im klaren, ob diese Methode überhaupt grundsätzlich richtig ist. Der SJB ist ein Papiertiger, denn er hat nicht mit den Massen, sondern gegen die Massen gewirkt. Uns fehlte die theoretische Grundlage, uns fehlte das Ziel, uns fehlte eine exakte Gesellschaftsanalyse. Wir wollen nicht länger nur Papiertiger sein, sondern wir wollen ein wirklicher Tiger werden, der dem Feind das Rückgrat bricht. Wir wollen die Gesellschaft exakt analysieren und aus dieser Analyse die Konsequenzen ziehen: Zerstören und Aufbauen, versuchen, einen Beitrag zu leisten, die Revolution einzuleiten. ‚Die Guerillas müssen in der Volksmasse schwimmen wie die Fische im Wasser‘ (Mao)*. Dieser Satz hat auch für uns Gültigkeit, aber wir dürfen ihn nicht dogmatisch übernehmen, d. h. wir dürfen nicht glauben, Revolution machen zu können wie Mao in China.

Sondern wir müssen bedenken, daß die Umstände und Verhältnisse in China mit denen in der Bundesrepublik nicht vergleichbar sind. Unser Prinzip aber muß sein: uns und den Feind zu erkennen. (*war Bolles erstaunliche Freundschaft mit Bello Harms vielleicht die Umsetzung von Maos These? – Anmerkung des Verfassers). Undogmatisch sein heißt Maoist sein. Mao sagte einmal zu Edgar Snow*: »… die heutige Jugend und die nach ihnen kommen werden, sie werden das Werk der Revolution nach ihren eigenen Wertmaßstäben messen. Des Menschen Bedingungen auf Erden wandeln sich mit wachsender Beschleunigung, in tausend Jahren werden selbst Marx, Engels und Lenin (aber nicht Mao? Anmerkung des Verfassers) wahrscheinlich recht lächerlich wirken« (*Red Star over China).

Wir wollen jetzt aktiv werden und einen NEUEN SOZIALISTISCHEN JUGENDBUND gründen und eine völlig neue Organisation aufbauen. Dazu laden wir Dich ein. Wir treffen uns am Freitag, dem 13.* Dezember 1968 um 19.30 Uhr, Haus der Jugend, Virchowstr. (Stadttheater). Wir bitten Euch, an diesem historischen Tag pünktlich zu sein. Außerdem bitten wir um Spenden. Wer 5 DM und mehr zur Verfügung stellen kann, kann das Geld auf das unten angegebene SJB-Konto überweisen. Denkt daran: Wir wollen neue Räume mieten. Mit freundlichen Grüßen: Sozialistischer Jugendbund, Bankkonto: Commerzbank Wilhelmshaven Nr. 3321247/90 unter Sozialistischer Jugendbund.

*Kein Wunder, dass das nix wurde …

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