Celluloid Heroes

‚... Everybody’s a dreamer, and everybody’s a star. And everybody’s in movies, it doesn’t matter who you are…’ 

So sangen die Kinks. Auch in meiner Heimatstadt war ich ab und an ins Kino gegangen. Als Kind, um Fuzzy-Filme und Ähnliches anzuschauen, als Jugendlicher, um Horrorfilme anzuschauen – oder zu knutschen. Es war damals gar nicht so einfach, ein paar ungestörte Stunden mit seiner Angebeteten zu verbringen. Und es war schön dunkel! Allerdings traute man sich nicht, eine Loge zu nehmen. War zum einen zu teuer. Zum anderen hätte die Kartenabreißerin denken können, dass man evtl. gar nicht gekommen sei, um den Film anzuschauen. Und vielleicht zur ‚Kontrolle’ vorbeikam. Durchaus denkbar zu einer Zeit, als Erwachsene rauchenden Jugendlichen die Zigarette aus dem Mund schlugen, falls die nicht nachweisen konnten, dass sie schon 16 waren (Ausweiskontrolle!). Die Auswahl an Filmen war begrenzt, immer nur Mainstream, Programmkinos gab es dort nicht.

So fing es an ...

Richtig los ging es für mich erst in Berlin: Dort gab es Hunderte von Kinos! Ganz normale Stadteilkinos, Off-Kinos, und buchstäbliche Paläste wie den ZOO-PALAST, der während der Berlinale gar zum weltweiten Zentrum der Zelluloidwelt wurde. Der erste Kinobesuch dort führte mich ins BBB, das in einem Hinterhof direkt gegenüber unserer Fabriketage in der Kottbusser Straße lag. Dort lief Sergio Leones Western Spiel mir das Lied vom Tod, der Charles Bronson unsterblich machte. Da wir jetzt Revolutionäre waren, konnten wir nicht nur in einen Film gehen und anschließend daheim zur Tagesordnung übergehen: Nein, es musste diskutiert werden! Lupus, der revolutionäre Wilhelmshavener Genosse, gab dabei den Ton an:

Wie waren die einzelnen Charaktere vom Klassenstandpunkt aus zu bewerten? Klar, der bei lebendigem Leib verfaulende Eisenbahnkönig Morton (‚ … leaves two shiny, slimy tracks like a snail …’), der für seinen letzten Traum – den Pazifik zu erreichen – über Leichen geht, war ein Kapitalistenschwein reinsten Wassers. Jedoch: War es nicht zu kurz gegriffen, nur den Film als solchen einer Analyse zu unterziehen? Konnte man wirklich dabei stehen bleiben? Nein! Wichtig war, zu erkennen, dass er eigentlich nur eine Metapher war! In Wirklichkeit ging es um die Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland, speziell Berlin. Waren nicht Bendzko, Mosch und die anderen Immobilienhaie ein getreues Abbild von Morton? …

Das in mehrere Schuhschachteln unterteilte THALIA Lichterfelde war bekannt für seine Pornofilme. Ich entsinne mich an Deep Throat – der Eintritt war unverhältnismäßig hoch. Dafür gab’s immerhin ein ‚Sektgedeck’ dazu. Weiß nicht, was das sollte. Der Film war nicht besonders originell, die helmartigen Frisuren und engen Hemden der männlichen Hauptdarsteller erinnerten mich an Mark Spitz, den Superschwimmer. Dort befand sich auch das kleinste Kino, in dem ich jemals gesessen habe: Es war halb so groß wie mein Wohnzimmer und verfügte über ganze acht Sitzplätze! Doch um Reefer Madness zu sehen, hätte ich noch ganz anderes auf mich genommen! Der Film wurde von der amerikanischen Drogenbehörde gesponsert. In ihm verwandeln sich biedere Studenten mit Milchgesichtern nach einem Zug aus dem Joint in mordlustige Monster. Sehr populär war damals auch der Kinobetreiber Bruno Dunst vom SCHLÜTER. Der wechselte aus Ersparnisgründen nur selten sein Programm. Das war jedoch mit Liebe und Sachverstand gestaltet. Mir persönlich gefiel das gut. Ich sehe mir lieber 10-mal denselben, guten Film an als zehn unterschiedliche schlechte Streifen. Ging allerdings immer nur dorthin, um die Blues Brothers zu gucken: Die liefen dort elf Jahre lang. Das konnten nur die Marx-Brothers (13!) toppen – aber das waren ja auch mehrere unterschiedliche Filme.

Die LUPE wandte sich vorwiegend an Cineasten und Liebhaber des Neuen Deutschen Films, zu denen ich nun mal nicht gehöre. Filme wie Eisenhans, Der Mond ist nur a nackerte Kugel oder Die Verrohung des Franz Blum deprimierten mich irgendwie. Ganz zu schweigen von Letztes Jahr in Marienbad oder so ähnlich. Das wär’ ja noch schöner, wenn man sich im Kino amüsiert, dachten sich wohl die Regisseure dieser Kunstwerke – belehrend sollten sie sein! Der absolute Knaller unter diesen Langweilern war Traumstadt von Johannes Schaaf. Glatzköpfige Frauen und Männer mit verbundenen Augen irrten durch eine seltsame Kulisse und sonderten merkwürdige Sprüche ab. Wie auch immer – danach brauchte man selbst als Fastabstinenzler einen Drink. Immerhin brachten sie dort Blue Velvet: Unvergesslich die Szene, in der Dennis Hopper mit seinen Spießgesellen zu In dreams von Roy Orbison herumtanzt oder die aus dem Schrank beobachtete Vergewaltigung Rosselinis durch den gasmaskentragenden, mit Poppers angetörnten Bösewicht. Wim Wenders ist für mich etwas grenzwertig. Einen seiner frühen Streifen sah ich im FILMKUNST 66 in der Bleistreustraße: Im Laufe der Zeit war zwar wahnsinnig lang, aber irgendwie Klasse. Er blieb bis heute der einzige Wim-Wenders-Film, den ich gern sehe. …

Sehr stark auch der Film Themroc mit Michel Piccoli als ausgeflipptem Arbeiter, der seine Mutter einmauert, die kleine Schwester vögelt und schließlich gar Polizisten am Spieß brät – deutlicher als Claude Farraldo konnte einem kein Regisseur klar machen, was er meinte. Wie z. B. die Trennung der Werktätigen im Umkleideraum, die Michel Piccoli auf gekonnte Weise aufhob. Unvergleichlich die Szene, in der er auf dem Klo völlig ausflippt und sein lautes Gestöhne von einem vor der Firma herumlungernden Penner mit ausgesprochen wölfischem Aussehen wahrgenommen wird. Der Vorfilm Die auf die Nüsse gehen wurde von Angestellten (Kassierer, Kartenabreißer, Eisverkäufer) des ADRIA-Kinos in Steglitz gedreht. Sein Thema waren unangenehme Eigenschaften der Kinofreunde: Papier in den Kinosaal werfen, im Foyer rauchen, 

während der Vorstellung quatschen usw. – irgendwie genial. Auch Ernst-Lubitsch-Filme waren eine Zeit lang sehr populär. Vor allem Sein oder Nichtsein, in dem der Schrecken des Dritten Reiches durch den Kakao gezogen wurde. … Nachstehend eine Liste meiner Lieblingsfilme:

1, 2, 3 (Billy Wilder), Belle de Jour (Luis Bunuel), Cabaret (Bob Fosse), Der Partyschreck (Blake Edwards), Die Brücke am Kwai (David Lean), Im Laufe der Zeit (Wenders), Lawrence of Arabia (David Lean), Mercenario, der Gefürchtete (Corbucci), Myanmar – Reise in eine verlorene Zeit (R. Teufel), Pulp Fiction (Tarantino), Reise in die Hohe Mongolei (Dali), Some like it hot (Billy Wilder), Stranger than Paradise (Jim Jarmusch), The Rocky Horror Picture Show (Jim Sharman), Themroc (Claude Faraldo) …

Doch war ich nicht nur unbeteiligter Zuschauer und Konsument, sondern lebte mitten drin in der Kinowelt! Und das kam so: Meine langjährige Behausung, die Ladenwohnung in der Neuen Hochstraße, lag in einer trostlosen, deprimierenden Gegend, nicht weit von der Mauer. Überraschenderweise avancierte sie plötzlich zur angesagten Filmkulisse. So weit ich mich erinnere, begann es mit dem Fernsehfilm Tatort – Das Rattennest. Was für ein Titel, eine Schande für unseren Kiez! Eine Nachbarin in der Nr. 44 vermietete ihr Obdach für einen Monat ans Fernsehen und bekam jede Menge Kohle dafür. Während der Dreharbeiten lebte sie angeblich in einem Luxushotel. Einerseits bedauerten wir sie alle wegen ihrer Wohnung, die offenbar so schlimm wie ein Rattenloch aussah. Andererseits waren alle Nachbarn neidisch: Die Kohle hätten sie auch gut gebrauchen können! Da der Film in ‚meiner’ Straße spielte, guckte ich mir ausnahmsweise den Tatort an. Die Bude sah in der Tat schlimm aus. Am nachdrücklichsten blieb mir im Gedächtnis, dass der Hauptdarsteller Götz George sich vor Angst in die Hosen schiss, als er auf der Müllkippe im Närrischen Viertel Opfer einer Scheinhinrichtung wurde.

Jahre später kam ich eines Abends nach Hause und rieb mir verwundert die Augen: Die Straße stand voll mit Autos der Nationalen Volksarmee (NVA), der Ostzonenarmee. Dazu ein paar russische LKWs. Der erste Gedanke: „Scheiße, jetzt haben die Russen Westberlin besetzt und du hast das gar nicht mitgekriegt – ab jetzt bist du ein Zoni!“. Zum Glück war es jedoch nur die Vorhut eines Filmteams, einen kompletten Original-Grenzübergang aufbaute, Kulisse für den Müller-Westernhagen-Film Der Mann auf der Mauer. Nicht viel später sah ich Marius höchstpersönlich auf der Kulissen-Mauer herumspazieren. …

… Schließlich wirkte ich selbst in einem Film mit. Zumindest tauchte mein Name als Berater im Abspann auf: Immerhin! Der Film Myanmar – Reise in eine verlorene Zeit ist der beste, der je über meine Wahlheimat gedreht wurde. Da konnten selbst Purple Plain und The harp of Burma nicht mithalten. Mal ganz abgesehen von eher peinlichen Streifchen wie Traumschiff oder ähnliche – da half es nicht mal, dass Peter Ustinov der Sprecher war.