Der deutsche Schlager der 50er, 60er und 70er-Jahre - eine Abrechnung

https://youtu.be/SjxEf3Asu08 (1956)
https://youtu.be/NS2k43NJycE (1955)
https://youtu.be/HNjtenJIESY (1960)
https://youtu.be/4-r0ngPEHkg (1961)

Das Wort Schlager ist wohl eine direkte Übersetzung des englischen Wortes Hit. Die eher altbackene Bezeichnung war meist auf deutschsprachige Lieder beschränkt. Die erfolgreichen S. der 50/60er-Jahre waren in der Regel Coverversionen US-amerikanischer Songs. Wer wusste damals schon, dass der von Freddy besungene ‚Brennendheiße Würstchenstand‘ (Heimweh) im Original Memories are made of this hieß und von dem erheblich cooleren Dean Martin gesungen wurde? Noch Jahrzehnte später passierte es mir, dass ich die englische Originalfassung eines altbekannten deutschen S.s hörte. Und erstaunt feststellen musste, dass das vermeintliche Original wieder nur eine schlechte Kopie war. Gelegentlich ging es aber auch anders herum: Petula Clarks Sailor war tatsächlich eine Coverversion von Lolitas Seemann!!

Die deutsche Schlagermusik galt allgemein als verlogen, ein Ruf, der sie bis heute verfolgt. Niemand hat das treffender und ätzender gegeißelt als H. C. Artmann, der sie folgendermaßen beschrieb: ‚… sie ist der unheilbare Tripper der Radioapparate, sie dunstet wie alle Latrinen Lambarenes zusammen und ist ein Koffer voll madigem Scheißdreck, der eben in einem ungelüfteten Zollbüro geöffnet wird!‘ (aus: Das suchen nach dem gestrigen Tag oder schnee auf einem heißen brotwecken, eintragungen eines bizarren liebhabers, Walter-Druck 1).

https://youtu.be/mI_9ybGYxFk (1964)

Und glücklicherweise war er in der Tat verlogen! Denn dadurch blieben den Hörern jener Zeiten die später aufkommenden unsäglichen Problemsongs und Protestsongs erspart, in denen irgendwelche deutschen Schlagerfuzzies ihr Innerstes nach außen kehrten. Und was dabei zum Vorschein kam, war oft noch schlimmer als die verlogenen Liedchen! Suzanne Doucets Song ‚Das geht doch keinen etwas an‘ galt dem konservativen Schlagerfreund damals schon als starker Tobak. Was war dagegen der Schlaggerfuzzi Peter Maffay, der seine Fans in Dieter Thomas Hecks ‚Hitparade‘ fand, bis er sein glitzerndes Schalkragenjackett gegen eine Haribojacke eintauschte, grimmig schaute und glaubte, er sei jetzt ein Rocker! Da lachte ja sogar der Kreidler-Klub! Nein, nein und nochmals nein: Der deutsche S. war o. k.!

https://youtu.be/gqFPJ5Fk4ZI (1948)
https://youtu.be/UjOvupXGU5I (1950)
https://youtu.be/UjOvupXGU5I (1959)
https://youtu.be/V7N61qLJH-s (1957)
https://youtu.be/iLlwYWpOs_o (1963)

Was aber war nun wirklich das Verlogene am deutschen S.? Zuerst einmal die Tatsache, dass er im Laufe der Nachkriegsentwicklung immer weniger mit Deutschland oder den Deutschen zu tun hatte. Reichten 1949 noch die Karawanken zur Vermittlung von Fernweh (‚… und auch die alten Karawanken, die wanken und sie schwanken …‘ / Du bist die Rose vom Wörthersee) völlig aus, so musste es zehn Jahre später mindestens Surabaya sein! Aber nicht nur räumlich entfernte sich der deutsche S. von seinem Ursprungsland: Hatte Theo Lingen 1948 noch seinen skurrilen Namensvetter mit dem treudeutschen Namen besungen (Der Theodor im Fußballtor), hießen die Schlagerhelden zehn Jahre später Jimmy (‚Jimmy Brown der war ein Seemann …‘ / aus Freddy: Die Gitarre und das Meer), Cindy (Cindy oh Cindydein Herz muss traurig sein‘)/Margot Eskens, siehe unten) und die Liebespaare Jane und Jim (Schuld war nur der Bossa Nova/Manuela). Was war geschehen? Hatten plötzlich alle deutschen Eltern ihren Kindern englische Namen gegeben?

Meine Freunde hießen Günner, Bernhard, Wolfgang, Peder, Joachim, Manni, Heinz usw., jeder könnte aus seinem Bekanntenkreis noch hundert Weitere nennen … Ein Jimmy befand sich nicht darunter. Die Mädchen in der Klasse hießen weder Cindy noch Jane, sondern Hannelore, Monika, Elisabeth, Roswitha, Manuela, Margot usw.. Selbst Negerbaby, die W’havener Exotin schlechthin, wurde von denen, die ihren wahren Namen nicht kannten, Rosi gerufen. Außer Jayne Mansfield, die aber Amerikanerin war, hätte ich zu jener Zeit keine einzige Jane benennen können. Oder sollte es hier um einen Unterwanderungsversuch der Kommunisten gehandelt haben? In der Ostzone trugen jedenfalls viele Kinder Namen, die deutschen S. n entstammen könnten. Jana, Jimmy, Ramona usw. Nun mag ein Schlaumeier einwenden, dass die Helden jener Zeit keine Jugendlichen sein konnten, sondern natürlich Erwachsene. Das mag zutreffen, jedoch hieß auch keine Hauptperson eines S.s August, Otto, Friedrich oder gar Adolf, ganz zu schweigen von Auguste, Ottilie, Elfriede oder Adolfine …

https://youtu.be/QYeV0BF8of4 (1962)
https://youtu.be/0QQjSvevb0w (1964)
Film mit Nadja Tiller (1958)
https://youtu.be/9q5Obu0wsmw (1967)
Die drei Peheiros

Einer der wenigen deutschen Schlagerstars, der sich auch in den 50er und 60er-Jahren gegen die englische Welle stemmte, war Friedel Hensch: Sie besang den Mond von Wanne Eickel und einen Geliebten namens Egon. Später gesellte sich dann Heino dazu, aber der war aus optischen Gründen noch weniger tragbar als Friedel. Letztere wurde übrigens von den Cyprys begleitet, deren Name für mich jahrzehntelang ein Mysterium darstellte, bis gegen Ende des zweiten Jahrtausends im SPIEGEL (Register/Gestorben) das Rätsel gelöst wurde: Werner Cyprys war Friedels Ehemann oder Lebensgefährte!! So einfach war das also! Ein ähnliches Rätsel bildete der Name des Medium-Terzetts: Bezog er sich auf die Mitte, also eine frühe deutsche Version des ‚Middle of the Road‘-Konzepts, oder eher auf die Mittlerfunktion des Terzetts zur Welt des Übersinnlichen?

Nehmen wir mal den Song Ein Loch ist im Eimer. Warum wurde der von bösartigen Menschen nach dem Mord an Rosemarie Nitribitt so gern gesungen? Oder das Lied Was will der weiße Wal im Rhein? Waren darin möglicherweise geheime Botschaften enthalten, die noch heute der Entschlüsselung harren? War schlussendlich nur die Bedeutung ‚Kommunikationsmittel‘ an sich gemeint? War es eine Anspielung auf die halbgaren Texte? Oder handelte es sich vielleicht um eine plumpe Annäherung an akademische Hörerkreise? Fragen über Fragen! Dagegen war für fortgeschrittene Schlagerfreunde die Entschlüsselung des Wortes PeHeiRo ein Kinderspiel: Es war natürlich die Aneinanderreihung der ersten Silben der Vornamen der Künstler: Peter, Heinrich und Robert!

https://youtu.be/iUzHUXxC7hA (1958)
https://youtu.be/k7uPpGXb2Po (1957)
https://youtu.be/Leo1b_Nq7Do (1963)
https://youtu.be/kHhLqRI6Yhk (1947)

Und erst mal die Berufe der Schlagerhelden! Unsere Väter (anständige Frauen arbeiteten ja damals nicht!) waren Angestellte, Verkäufer, Kraftfahrer, Busschaffner und Ähnliches oder schufteten bei Olympia. Der in S. n weitverbreitete Beruf des Vagabunden (Der Wahrig deutet den Begriff mit ‚Landstreicher, Gauner, Strolch‘, im übertragenen Sinne auch ‚rastloser, ruheloser, getriebener Mensch‘) war selbst bei der Berufsberatung im Arbeitsamt an der Schillerstraße unbekannt. Nichtsdestoweniger scheint er sich einiger Beliebtheit erfreut zu haben, denn sowohl Freddy (Ich bin ein Vagabund): ‚Ich bin ein Vagabund und zieh von Land zu Land, ich küsste manchen Mund, den ich am Wege (!) fand …‘ als auch Fred Bertelmann: ‚Was ich erlebt hab’, das konnt’ nur ich erleben, ich bin ein Vagabund. Selbst für die Fürsten mag’s den grauen Alltag geben, meine Welt ist bunt’ (oder hieß es ‚rund‘?) (aus Der lachende Vagabund) besangen das Vagabundenleben in einer Form, die am Wahrig zweifeln lässt. Die überwältigende Mehrheit der in S.n besungenen Helden jedoch waren Seeleute. Es gab auch in meinem Bekanntenkreis durchaus einige, die es ‚… aufs Meer hinauszog‘: Sie fuhren meist auf ‚M.S. Wilhelmshaven‘ oder der ‚Eckwarden‘.

Bestenfalls landeten sie auf einem Fischkutter oder einem Schlickrutscher. Da sie aber meist nach einer Saison wegen Seekrankheit aufgaben, zudem weder das Schifferklavier noch die Gitarre beherrschten und meist noch aus der Unterschicht stammten, fanden sie allgemein wenig Anerkennung. Das mag auch daran gelegen haben, dass jeder wusste, dass die wahre Heimat der Matrosen auf dem Ozean lag, bestenfalls auf der Reeperbahn, keinesfalls jedoch in der Ruselerstraße in Wilhelmshaven, wo die von mir verehrte Monika Klima wohnte, deren Bruder so ein Seemann war … Wie auch immer – unsere Illusionen vermochte das nicht zu mindern: Das ausschweifende Leben der Seeleute wurde von allen Jungen bewundert. In jedem Hafen ein treues Mädchen, das nur auf den einen wartete. ‚Bleib doch!‘ So bat ihn sein Mädchen am Kai, ‚bleib’ und das Leben wird schön!‘ (aus: Weil die Sehnsucht so groß war). Hein Mück aus Bremerhaven z. B. hatte auf der ganzen Welt Freundinnen: ‚Die eine in Havanna, die andere in Hawaii‘ und wer weiß, wo sonst noch. Wer wollte da schon Lokomotivführer werden? Es ist nicht gerade glamourös, eine Freundin in Wanne-Eickel und ’ne andere in Castrop-Rauxel zu haben.

Film von 1962 - echt cool!
https://youtu.be/ZRKWGaHs9dk (1962)
https://youtu.be/amARd8sEKv4 (1961)
https://youtu.be/-VWbWpP4zXo (1957)
https://youtu.be/HNtuU0VPi20 (1963)

Freddy zeigte im Film ‚Freddy und das Lied der Südsee‘ jedoch auch die Schattenseiten auf: Treulose Frauen, die Kinder von diversen Seeleuten hatten. Das Leben an Bord war keinesfalls leicht: Rost kloppen, Nachtschicht, enge Kabinen, schikanöse Kapitäne usw. Die Belohnung für diese Härten winkte dann aber in Surabaya (wo es tatsächlich den größten Puff der Welt gibt: Nicht weniger als 15.000* treue Mädels warten hier auf die Seeleute) und Hawaii. Da hieß es sich gewissenhaft vorzubereiten, wie dieser alte Seemannsreim beweist: ‚Der Seemann prüft sein Sackgewicht, backbord ist ein Puff in Sicht!‘ *von mir persönlich gecheckt! Letztendlich jedoch hatte der Seemann nur eine Heimat: Die See bzw. den Ozean (Freddy: ‚Aloha-he, die Heimat der Matrosen ist die See‘), obwohl auch die Reeperbahn in Hamburg teilweise Heimatcharakter besaß: ‚Auch Matrosen haben eine Heimat und diese Heimat ist der Ozean. Auch Matrosen fahren in die Heimat und diese Heimat ist die Reeperbahn. Doch wenn sie dann bei ihrem Mädel wohnen, packt sie sehr schnell die große Sehnsucht an:

Denn die wahre Heimat der Matrosen, das ist und bleibt der weite Ozean – der weite Ozeeeaaaan!‘ (Freddy: Auch Matrosen haben eine Heimat). Diejenigen W’havener, die es als Seeleute weitergebracht hatten, fuhren nach Rotterdam, New York, Liverpool, Kapstadt usw. In den S. n waren diese Häfen unbekannt. Hier ging es immer nach Surabaya, Bombay, Kalkutta, Hongkong oder Rio, manchmal sogar in auf keiner Seekarte verzeichnete Städte: ‚Cantabamberra, das ist eine Stadt, die zuviel Männer und zuwenig Frauen hat.‘ (Fred Bertelmann: Cantabamberra). Bei der Auswahl der Zielhäfen war allein ein klangvoller Name wichtig, das Frachtaufkommen hatte sich dem Motto ‚Reim’ dich oder ich fress’ dich‘ unterzuordnen. Um dem zu genügen, wurde gar Freddy, der Prototyp des alten Seebären, in die Wüste des Binnenstaates Afghanistan verfrachtet: ‚Denn in Shanghai oder Rio, in Kalkutta und Afghanistan, hab’ ich Sehnsucht nach St. Pauli, nach St. Pauli und der Reeperbahn!‘ (Ich hab Heimweh nach St. Pauli)

https://youtu.be/fNyGuxJ9BmU (1959)
https://youtu.be/NelaIKlvq6I (1977)
https://youtu.be/aJinWxD6w8U (1959)
https://youtu.be/IgJvaDsOmH8 (1963)

War es da ein Wunder, dass sich die Künstler jener Jahre exotische Namen gaben, um dem vermeintlichen Publikumsgeschmack gerecht zu werden? Aus Manfred Petz wurde Freddy Quinn (nicht verwandt mit Anthony Quinn), Gerd Höllerich wurde zu Roy Black und aus Rudi Schuricke wurde Ted Herold. Wer sich schon keinen vollständigen englischen Namen zulegte, drehte wenigstens seinen Vornamen um: So wurde aus Kurt Branss, dem Schöpfer der unsäglichen Hitparade, Truck Branss usw. Kann man da Peter Puff noch einen Vorwurf machen? Wohl nicht!

Und dann waren da noch die erfolgreichen Sänger nichtdeutscher Herkunft, soweit sie nicht aus dem englischen Sprachraum stammten! Als ob es in Deutschland nicht schon genug Nieten gäbe, strömten Barden aus Südeuropa gen Norden: Aus Jugoslawien kamen Ivo Robic (Morgen) und Bata Illic (Mit meiner Zither war ich der König von Salzgitter), der Italiener Rocco Granata (ob das wohl sein wahrer Name war?) röhrte Marina und Rita Pavone schwärmte davon, wie es wäre, ein Junge zu sein: ‚Wenn ich ein Junge wär’, dann wüsste ich so gut, was so ein Junge-Boy aus lauter Liebe tut.‘

https://youtu.be/g_y50-TBYRo (1969)
https://youtu.be/F2UasT2yEUg (1960)
https://youtu.be/NVHvUT9lMjs (1974)
https://youtu.be/S2ATEU_pcv8 (1963)

Aus der Goldenen Stadt Prag kam die schrille Goldene Stimme (?), der blasphemische Karel Gott, aus Griechenland Leo Leandros (mit dem heute wohl als ausländerfeindlich geschmähten Song Mustafa) mit seiner Tochter Vicky (Theo, wir fahren nach Lodz!) und aus Spanien Julio Iglesias. Die südländischen Barden sangen mit starkem Akzent und hatten damit großen Erfolg. Aus der Gegenrichtung kamen Siw Malmkvist und Wencke Myhre, aus Holland schließlich Lou van Burg … Aber damit nicht genug: Sogar indonesische Sänger erfreuten sich in Deutschland großer Beliebtheit. 

In der deutschen Coverversion des japanischen Superhits Sukiyaki sangen die Blue Diamonds: ‚Beim Suki-sukiyaki, in Naga-nagasaki‘. Immerhin blieben wir damals noch von russischen Sängern verschont – dieses letzte Tabu wurde erst gebrochen, als im Zuge der Mittelstreckenraketenkrise Ende der 70er-Jahre (als uns die Russen mal wieder überrollen wollten) ‚für den Frieden‘ nicht nur Volleyball gespielt oder vielleicht sogar geboßelt wurde, sondern eben auch russische Schlagersänger (echte, nicht Ivan Rebroff!) auftraten – sie wurden selbst von den versprengten Resten des SJB ausgepfiffen …

https://youtu.be/zJnXXdTUJTY (1964)
https://youtu.be/X02t8vKLtbw (1960)
https://youtu.be/6qAazPVLONM (1963)
https://youtu.be/jswsFeQU1UA (1963)
https://youtu.be/-p8zVvG0G3A (1964)
https://youtu.be/vFougTKXePA (1961)

Während jedoch fortschrittlich gesinnte Jugendliche deutsche Interpreten bestenfalls mitleidig belächelten, wurden englische und amerikanische Sänger deutschsprachiger Songs trotzdem weiter – jedenfalls teilweise – ernst genommen. Cliffie sang fast alle seine Hits (Das ist die Frage aller Fragen) auch auf Deutsch, Elvis in Wooden Heart zumindest ein paar Zeilen – wenn auch mit eigenartigem Akzent. Und selbst die Beatles (Sie liebt Dich/Komm gib mir Deine Hand) mochten nicht auf den lukrativen deutschen Markt verzichten.

Das schadete den Genannten genau so wenig wie den eher mittelmäßigen Interpreten Joey Dee (Bitte, bitte Baby) und Paul Anka (Zwei Mädchen aus Germany), die nach ihrem Ausflug in unsere Sprachgefilde trotzdem Stars blieben: Die Fans haben halt ein großes Herz und verzeihen ihren Idolen so manches. Weniger prominente Ausländer hingegen wurden nicht ernst genommen und endeten oftmals auf der Blödelschiene. Wie z. B. der Besatzungssoldat Bill Ramsey (Die Zuckerpuppe …).

1964
https://youtu.be/Q2wR6XHf2dw (1962)
https://youtu.be/EjOGuG5mDsE (1961)
https://youtu.be/tycfF0PhkwU (1967)
https://youtu.be/FcA6RJgj6mk (1974)

Oder Billy Mo, der nicht einmal davor zurückschreckte, unsere deutsch-österreichische Marschmusik (Wien bleibt Wien) zu covern (Der Salontiroler). Dazu kam Gus Backus, obwohl jener neben dem Alten Häuptling eine blitzgescheite Abrechnung mit der Entwicklungshilfe (Bisschen Denken beim Schenken!) vorlegte: ‚Weißer Mann, kluger Mann, baut im Urwald Eisenbahn, schwarzer Mann, geht zu Fuß, weil bezahlen muss!‘.

Jene Ausländer, die versuchten, flotte – ja manchmal sogar leicht rockige Schlagermusik – zu machen wie der stets mit offenem Hemd, Goldkettchen und Löwenmähne auftretende Libanese Ricky Shayne (Ich sprenge alle Ketten) und der Südafrikaner Howard ‚Howie‘ Carpendale (Geile Spuren im Sand) schafften es nie, außerhalb des deutschen Marktes zu reüssieren, lebten aber in dem Wahn, Weltstars zu sein. Zumindest, was ihre Gagenforderungen betraf. Shayne betreibt heute einen Kiosk in D’dorf-Flingern.

1993
https://youtu.be/b5naI6M6ncs (1962)
https://youtu.be/uHDeZtplr10 (1961)
https://youtu.be/8z0_8Dj2V1M (1973)

Werfen wir einen Blick auf eine in den 80er-Jahren erschienene Zusammenfassung deutscher S. der Firma Polydor (‚Glorreiche Oldies – das Schönste der 50er & 60er‘)! Auf dieser neudeutsch Sampler genannten Vierer-CD finden sich insgesamt 72 Titel, vorgetragen von 57 verschiedenen Interpreten (einige im Duett!). Nehmen wir zuerst die Muttersprachler unter die Lupe: 38,5% (22 Personen) trugen hierzulande gebräuchliche vollständige Namen wie Friedel Hensch oder Gerd Böttcher. 5,3% (drei Damen) begnügten sich mit einem deutschen Vornamen: Dorthe, Manuela, Conny. 12,3% (sieben Personen/Gruppen) trugen englische Namen wie Ted Herold, Tommy Kent oder die Ricky Boys. 3,5% (zwei Bands) waren mit hoher Wahrscheinlichkeit Landsleute von uns, nannten sich aber ‚Die Original Kilima Hawaiians‘ o. Ä.! 7,0% (vier Gesangskünstler) waren Deutschsprachige, die sich südländische Namen (z. B. Caterina Valente, Rex Dildo) zugelegt hatten. 3,5% (zwei Sängerinnen) waren mit einiger Wahrscheinlichkeit französische Muttersprachler (Angele Durand, M. Baptiste). 3% (drei Personen) kamen vom Balkan oder aus Italien (meckert da wer?): Ivo Robic, Melina Mercouri, Nana Gualdi.

3,5% (zwei Künstler) kamen aus völlig exotischen Gefilden (Blue Diamonds/Indonesier, Sachiko Nashida/Japanerin, die vermutlich das erste ‚coming out‘ der deutschen Schlagergeschichte lieferte: Die Seligkeit liegt immer am anderen Ufer. 5,3% (drei Personen) waren Amerikaner: Connie Francis, Gus Backus, Bill Ramsey. 5,3% (drei Frauen) stammten aus Skandinavien (Bibi Johns, Siw Malmkvist, Gitte). 1,8% (eine Person) war Lou van Burg. Somit waren fast zwei Drittel der Interpreten mit hoher Wahrscheinlichkeit deutsche Muttersprachler. Davon hatten jedoch mehr als 30 % einen englischen Namen angenommen. Unklarheit besteht bei einer Person mit französischem Namen (Suzanne Doucet) sowie einer Weiteren, die sich zwar ‚Deutscher‘ nennt, aber den artfremden Vornamen ‚Drafi‘ trägt. Ähnlich verhält es sich mit einer gewissen Lys Assia, deren Namen auf baskische Herkunft hinweisen könnte. Diese Gruppe stellt 5,3% der Interpreten. Rechnen wir sie noch den Deutschsprachigen zu, wächst deren Anteil auf 72,5%. Nicht klar zuzuordnen waren drei Interpreten (5,3%), die verdientermaßen schon längst in der Versenkung verschwunden sind.

Daher war nicht mit letzter Sicherheit zu ermitteln, ob es sich bei ihnen um Muttersprachler handelte. Allerdings ist mir kein Ausländer bekannt, der Tony Tornado hieße, sodass es sich möglicherweise der Künstlername eines deutschen Interpreten sein könnte (es ist geklärt: Tony Tornado ist ein Deutscher und zwar ein persönlicher Freund von Platten-Pedro, Berlin!). Echte Eddie Wilsons und Peggy Browns hingegen dürfte es nicht zu knapp geben …

Waren also unter den Interpreten Muttersprachler stark vertreten, so bieten die besungenen Plätze ein ganz anderes Bild und zeigen deutlich das seinerzeit in der Bundesrepublik herrschende Fernweh. Insgesamt wurden neun Orte direkt in Liedtiteln genannt, davon lag keiner in Deutschland. Fünf davon waren Hafenstädte, drei von ihnen (Bombay, Surabaya und Schanghai) lagen in Asien, eine in Europa (Napoli) und eine in Südamerika (Rio). Weiterhin kamen vor: Der Londoner Ortsteil Soho (früher berüchtigtes Viertel), die Wüste Sahara, der amerikanische Bundesstaat Arkansas (Der Sheriff von Arkansas ist ’ne Lady, Caterina Valente) und der mexikanische Vulkan Popocatepetl (siehe auch Twist). In den Liedern selbst wurden darüber hinaus sieben Orte besungen, davon ein deutscher: Das von dem Amerikaner (!) in der Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe Bill Ramsey besungene Wuppertal: ‚Elfriede, Elfriede, so rief ich durch den Saal, denn diese Zuckerpuppe aus der Bauchtanztruppe kannte ich aus Wuppertal. Aus Wuppertal?, Aus Wuppertal!‘. Zur Ehrenrettung der Texter sei hier konzediert, dass deutschen Namen irgendwie der Sex-Appeal fehlt: Heißt eine Gruppe Kansas ist das völlig o. k.! Nennt sie sich aber Rheinland-Pfalz klingt das komisch. Die anderen Orte waren Hongkong, Piräus, Hawaii (mehrere Nennungen), Kalkutta und Marokko und Bali. Insgesamt lagen also 94% der besungenen Lokalitäten im Ausland. War es bei dieser Entfremdung von unserem deutschen Liedgut ein Wunder, dass kein Geringerer als der Bundespräsident Walter Scheel selbst Hand anlegte, um es zu bewahren? Hoch auf dem gelben Wagen war sozusagen ein Superhit mit der ‚Message‘: Wir brauchen keine Rocco Granatas oder Ricky Shaynes! Das können wir selbst viel besser! Danke, Walter Scheel!