Blaue Augen, dicke Backen und fehlende Zähne
Hallo Freunde, wisst ihr noch, wie es damals war, als stadtbekannte Schlägertypen uns das Leben sauer gemacht haben? Ob im Idioten-Dreieck, im Schützenhof oder vor der Nordseestation. Denen so viele ein blaues Auge oder ein paar ausgeschlagene Zähne ‚verdankten‘? Mein Kumpel von Hin und Zurück z. B. hatte furchtbare Angst vor einem gewissen ‚Goldzahn‘. Der lebte wie er selbst in F’groden, aber die beiden trieben sich wie so viele F’Tönger lieber bei uns in der ‚Stadt‘ – bevorzugt im Idioten-Dreieck – herum, statt sich auf den doch angeblich so tollen Brodd (Posener Straße) zu beschränken. Aber spätestens mit dem letzten Bus – dem ‚Lumpensammler‘– ging es wieder zurück in die Heimat im hohen Norden. Da von Hin und Zurück wenig Bock darauf hatte, seiner Nemesis zu begegnen, nahm er Zuflucht zu einer List: Statt am Gummibahnhof stieg er am Werfttor 1 ein. Aber nur, wenn Goldzahn nicht an Bord war! Ansonsten hieß es auf Schusters Rappen den Heimweg anzutreten. Ich verstand mich allerdings gut mit dem Typen.
Ich entsinne mich noch an eine ganze Reihe Rabauken, deren Name ich im Folgenden z. T. leicht verändert wiedergebe. Sonst geht’s mir bei meinem nächsten Besuch in W’haven schlecht! Karl Freger, Georg Kopf, die Schwarz-Brüder, Hügel, Manni, Siegelring-Peter, Herbert Zimperlich, Bernhard Bong, Peter Bikini, die Bamm-Brüder, Schlimmer, Spannkopf, Bohm, Peter Strücker und die Jungs von der Knochenparkgang. Ganz zu schweigen von dem Marinesoldaten Charlie, dem ‚Neger vom Hasenbergl‘*, der sie alle weghaute. Aber der ist ja schon tot. Viele ‚anständige Jugendliche suchten in ihrer Not die Lösung im Beitritt zu einem Kampfsportverein. Sei es der Jadeboxring oder der ASV oder das ‚Studion der Selbstverteidigung‘. Das nützte allerdings meist nicht viel, denn denen fehlte der ‚Killerinstinkt‘. Bevor sie überhaupt etwas schnallten, hatten sie schon was auf die Fresse bekommen.
*so der Titel seiner Biographie
Ich selbst hatte glücklicherweise wenig Probleme mit diesen Zeitgenossen. Zum einen wohnte ich in Bant und gehörte damit automatisch zu den Banter Briten, die sehr solidarisch waren. Damit fielen schon mal eine ganze Menge Leute weg, die einem Ungemach bereiten konnten. Dazu kam, dass mein Bruder Rudi im Kreidler Klub war. Wenn ich dem Treiben auch verständnislos gegenüberstand, so hatte doch seine Mitgliedschaft gewisse Vorteile für mich. So, als ich eines Samstags mit Trenchcoat, Gamaschen, Stockschirm und einer Holzente im Schlepptau nichts ahnend dem Rathausplatz zustrebte. Als ich beim Finanzamt um die Ecke bog, blieb mir fast das Herz stehen: Dort war eine riesige Rockermeute versammelt! Bei meinem Anblick wurde es augenblicklich still auf dem Rathausplatz, und ich sah mich im Geiste schon auf dem Weg ins St. Willehad-Hospital. Ein paar üble Typen kamen auf mich zu und begannen sich über mich lustig zu machen: Sie traten gegen meinen kleinen Liebling und nahmen mir den Schirm weg. Doch dann kam die Rettung! Einer sagte: „Hey, das ist doch der bekloppte Bruder von Rudi. Lasst den in Ruhe, der kann nix dafür!“. Und so kam ich davon …
Einer der schlimmsten Schläger war Hügel. Der hieß in Wirklichkeit Rüdiger F. und wohnte Gerüchten zufolge in der Kaserne Gökerstraße am Germania-Platz. Er war nicht viel größer als einsfünfzig und hatte eine abenteuerlich gestaltete Nase. Auf Nachfrage berichtete er stolz, dass ihm schon fünfmal das Nasenbein gebrochen worden sei. Er gehörte zu der Clique um Kerli, die der Schrecken aller friedliebenden Jugendlichen von W’haven war. Der kleine H. wurde von seinen Spießgesellen gern vorgeschickt, wenn sie Streit suchten. Er ging zu einem oder gar einer Gruppe körperlich weit überlegener Jugendlicher und pöbelte sie frech an. Nachdem er lange ignoriert worden war, trieb der Zwerg es irgendwann zu weit und handelte sich Schläge ein. Das leise Knacken des Nasenbeins war das Signal für seine im Hinterhalt lauernden Kumpels, die ihren Freund grausam rächten. H. hatte neben seinem mehrfach gebrochenen Nasenbein noch Nierenprobleme, was er seiner Begeisterung für die Freikörperkultur verdankte. Bei einem Ausflug des Kreidler-Klubs nach München fuhr er die ganze Strecke bei schönem Wetter auf seinem Rabeneick-Moped mit nacktem Oberkörper!
Ich selbst gehörte einerseits eher zu den Exis, war andererseits aber auch der – wenn auch etwas aus der Art geschlagene – Sohn Werkzeug-Hugos von der FINA-Tankstelle am Banter Markt. Diesem Umstand verdanke ich meine Freundschaft mit Hügel!
Unsere Freundschaft begann auf ungewöhnliche Art: Ich spazierte eines Tages mit Helmut Brusing über den Rummel am Banter Markt. Wir beide trugen lange khakifarbene Trenchcoats aus Vaters Kleiderschrank, die seit Mitte der 50er-Jahre das Tageslicht nur noch beim Ausbürsten gesehen hatten; solche Mäntel waren das Kennzeichen unangepasster Jugendlicher, die keine Lederjackenträger waren. Wohl zum ersten Mal im Leben sah H. Leute mit solchen Mänteln, aber instinktiv merkte er, dass sie zu den Exis gehörten – also Feinde waren. Er machte sich über uns lustig, und als das nichts half, pöbelte er uns auf üble Art an. Die beiden Freunde aber gingen stoisch weiter Richtung Ausgang. Unter dem Gejohle seiner Kumpanen sprang H. dem hochgewachsenen Erzähler auf den Rücken; dieser zuckte mit keiner Miene und lief weiter, den Giftzwerg auf dem Rücken, den bedrückten Brusing an seiner Seite, den Rest seiner Peiniger hinter sich. Nach zwei Minuten hatte der kuriose Zug die FINA-Großtankstelle am Banter Markt erreicht, und der als Tragtier Missbrauchte schwenkte zum Erstaunen der johlenden Meute hier ein. Der Pächter kam heraus und raunzte den Reiter an: „Hügel, komm sofort von seinem Rücken runter!“ Dann zu dessen Opfer: „Musst du denn immer den Clown spielen?“. Der erklärte dem Retter die Umstände, die zu dieser Konfrontation geführt hatten und Werkzeug-Hugo staunte. Jedoch: Die Tatsache, dass dieser Trenchcoatträger offenbar gute Beziehungen zu dem bei allen jugendlichen W’havener Motorradfahrern hoch angesehenen Auto- und Motorrad-Fachmann hatte, machte mich auf der Stelle zu deren besten Kumpel. Selbst Brusing profitierte von meiner plötzlichen Popularität und konnte, seinem zwiespältigen Charakter gemäß, unter dem Schutz seiner neuen Freunde ungestraft herumpöbeln …