Schier, Otten & Co.
Irgendwann plagte mich das Gefühl, mich jetzt langsam mal Richtung Zukunft orientieren zu müssen. Es wäre doch schade, die ganze in die Ausbildung gesteckte Zeit einfach so abzuschreiben. All die Opfer und Erniedrigungen sollten für die Katz gewesen sein? No way! Ich suchte mir also eine Lehrstelle, um die so unsanft unterbrochene Ausbildung zum Speditionskaufmann zu beenden! Je näher an meiner Wohnung gelegen, desto besser! Bei BETRAKO, deren Büro um die Ecke in der Skalitzer Straße lag, war leider nichts frei. Bei einer Firma in Schöneberg nahe dem U-Bhf. Gleisdreieck wurde ich schließlich fündig: Personalchef Morzinek war bereit, mir eine Chance zu geben – aber die Haare müssten ab! Wie bitte? Das war doch gerade der Grund für die Kündigung gewesen! Da ich jedoch inzwischen in der Stadt meiner Träume angekommen war, ging ich auf die Erpressung ein! Und machte einen gewaltigen Gehaltssprung: Statt 150.90 DM monatlich, wie bei Fritzen Kraftverkehr in der Heimatstadt, verdiente ich dort stolze 221.70!
In der Halbruine am Karlsbad lernte ich seltsame Leute kennen. Hatte mir bis dahin gar nicht vorstellen können, dass es sie gab. Den fetten Prokuristen ‚Kugelblitz’ Schulze, den Superstreber Zwille Putzke. Nicht zu vergessen Frl. Meise aus Bielefeld, die vom Senat nach Berlin gelockt worden war. Sie wollte gern mal bei uns in die ‚Kommune’, wie sie es nannte, eingeladen werden. Da sie nicht so spitzenmäßig aussah (um es nett zu sagen) blieb sie hinsichtlich ihrer sexuellen Bedürfnisse auch weiterhin auf das Resi angewiesen. Oder die Wiener Rutsch’n und den Ball der einsamen Herzen im Café Keese. Sie hatte früher mal bei Gebr. Mönkemöller gearbeitet. Daher zitierte sie dauernd deren Werbespruch „Ihre Güter rollen schneller mit Gebrüder Mönkemöller“.
Ich wanderte durch die diversen Abteilungen und brachte die behäbigen Kollegen fast zur Verzweiflung. Alle mir aufgetragenen Arbeiten wurden in Windeseile erledigt. So beschäftigten sie mich damit, die für unlösbar gehaltenen Fälle der Ablage zu lösen. Frau Tittlich (starke Tochter!) aus der Eingangsabteilung wusste sich am Ende nicht mehr zu helfen. Sie schickte mich mitten im Winter auf den Dachboden, um die Ablage der 50er Jahre auf Vordermann zu bringen. Nachdem auch das erledigt war, gab sie auf. Ich verbrachte fortan den Großteil der Arbeitszeit mit dem Lesen von U-Comix auf dem Klo. Da ich meinen Job tadellos erledigte, konnte man mir nichts anhaben. Um wenigstens einmal täglich aus dem Mief rauszukommen, meldete ich mich freiwillig zur Postabholung im Luftpostamt Möckernstraße.
Herr Krach (Chef Eingangsabteilung) saß einsam in einem Glaskasten. Nur seine auch in der Firma tätige Tochter leistete ihm manchmal Gesellschaft. Dann wurde er von Herrn Reiners vertrieben – Aufstieg und Abstieg in einer Klitsche … Letzterer war einer der wenigen netten Kollegen. Er erzählte mir, dass er auch nicht mehr lange bleiben würde. Er plane, sich als Kinderbuchautor durchzuschlagen. Ob’s was geworden ist? Keine Ahnung, doch ich würde es ihm wünschen. Die Mitlehrlinge waren dröge Typen, mit denen ich wenig anfangen konnte. Der einzige Originelle unter ihnen war Kistner, ein Schwuler mit Buddy-Holly-Wayfarer-Brille. Der war für die Kollegen ähnlich exotisch wie ich, der Kommunarde. Wenn auch aus ganz anderen Gründen. Er trug diese ganz eng am Körper anliegenden Hemden und Bundfaltenhosen, die unter den Armen kniffen. Er kultivierte sein Schwulsein noch, indem er ganz bewusst in diesem Schwulenton sprach. Auf der Messe Partner des Fortschritts verguckte sich eine ältere Ausstellerin von den Philippinen in den schmucken Burschen. Es entwickelte sich eine leidenschaftliche Affäre. Einmal wurde er vom Lagerbullen Löchel erwischt, als er die Dame in einer Ecke küsste. Seitdem hieß er in der Firma nur ‚Der Kisser’. Nachher stellte sich heraus, dass er sie offenbar auch gevögelt hatte. Er kündigte und wurde Europaresident der Firma seiner Sugarmama. Right on, Kisser! Bei Herrn Hohlmann, dem Big Boss, hatte ich ’nen Stein im Brett. Der merkte, dass ich besser war als die anderen. Und zog mich ab und an zu schwierigen Aufgaben heran. So z. B. wenn es darum ging, die Adressen irgendwelcher Speditionen in abgelegenen Ländern ausfindig zu machen. Seine Sekretärin, Fräulein Wegener, konnte die partout nicht finden. Die kurzhaarige Blonde war übrigens die einzige Mitarbeiterin der Firma, die ich gern gevögelt hätte. Und das will schon was heißen, angesichts meines sexuellen Notstands damals. Manchmal kamen Hohlmanns Söhne in die Firma. Sie behandelten uns ziemlich herablassend. Nach Aufnahme meines Studiums (1974) sah ich sie bei einer Paläontologie-Vorlesung wieder – komisches Gefühl …
Mein Lieblingsplatz in der Firma war das Lager am alten Potsdamer Bahnhof. Wenn jemand gesucht wurde, um Frachtbriefe rüberzubringen, stand ich auf der Matte. Die Fahrer und Lagerarbeiter waren mir lieber als die Bürohengste; die Älteren unter ihnen erinnerten mich ein wenig an meinen Vater. Die Kollegen gingen mittags gern in die Kantine des Senators für Jugend und Sport, die nebenan war. Dort gab es Sachen wie Lungenhaschee – so was hatten wir daheim nicht mal in den schlechten 50er-Jahren gegessen. Dann doch lieber Ölsardinen! Während der Besorgungsgänge entdeckte ich viele merkwürdige Dinge wie z. B. einen Kartoffelschälbetrieb! Also, was es hier nicht alles gab: Da saßen wirklich Frauen, die den ganzen Tag Kartoffeln schälten. Es gab sie in der Tat noch, die Frauen, die ihre naturgegebenen Aufgaben erfüllten … Eine Beschreibung meiner Kollegen wäre nicht komplett ohne Herrn Hermann aus Neuwied. Das Arschloch hasste mich, den ‚Ungedienten’, der all das verkörperte, was ihm gegen den Strich ging, von ganzem Herzen! Der war stolz darauf, dass er bei der Bundeswehr Unteroffizier gewesen war!! Er sah aus wie Helmut Kohl in Blond und sprach mit einem ähnlich entsetzlichen Akzent. Und ging nicht nur mir schwer auf die Nerven.
Der Weg zum Luftpostamt (s. o.) führte mich die Köthener Straße hinunter. Entlang der Trümmerwüste, die damals noch zur DDR gehörte. Ich stellte mir vor, wie es vor dem Krieg gewesen sein musste, als sie im Haus Vaterland die Sau rausließen. Damals hätte ich nicht gedacht, dass ich ein paar Jahre später dort auf dem Flohmarkt stehen würde … Bei einem der Gänge bemerkte ich, dass ich meine Nase gar nicht mehr spürte. Die wäre mir beinahe abgefroren – so kalt war es im Winter 1969/70! Lehrstelle hin, Lehrstelle her: So schön es auch war, wieder eine berufliche ‚Perspektive’ zu haben – finanziell war es für mich ein Desaster! Vorher hatte ich mit Hilfsarbeiterjobs ein ganz gutes Einkommen erzielt. Jetzt standen mir monatlich nur 220 Mark zur Verfügung. Da war es schon problematisch das Fahrgeld zusammen zu kriegen. Denn vom Kotti zum Gleisdreieck waren es immerhin vier Stationen – zu weit zum Laufen. So fuhr ich schwarz. Oder suchte im Zugangstunnel zur Dresdener Straße nach weggeworfenen Fahrkarten, die noch nicht abgelaufen waren. Irgendwann fiel mir auf, dass ein unbekannter Wohltäter seine Fahrkarte stets exakt am selben Platz wegwarf. Der stieg jeden Morgen um halb acht am U-Bahnhof Gibbonstraße (Boddinstraße) ein. Auf den Mann (oder die Frau?) war Verlass und so waren meine Probleme zumindest für die Hinfahrt gelöst. Natürlich hieß es immer, vor Kontrolleuren auf der Hut zu sein! Für diesen Fall hatte ich mir den genialen Plan zurechtgelegt, von der U-Bahn direkt in den Landwehrkanal zu springen. Da sollten die mich erst mal kriegen! Zum Glück musste ich den Plan nie in die Realität umsetzen.
Ihr wollt wissen, wie es weiter ging bei SOC? Nun, im Gegensatz zu M.F. Tapken, meiner ersten Lehrfirma, die kurz nach meinem Rausschmiss bankrott ging, hält sich SOC anscheinend bis heute. Hören wir, was einer meiner Nachfolger zu berichten hat: Es war sensationell, was ich bei Schier Otten erleben und lernen durfte: Messe, Binnenschiffahrt, Luftfracht, LKW, Lagerlogistik, Zollager, Bahnverkehre sowie massenhafte Russlandverkehre mit Sovtransavto. Es war eine tolle Ausbildung für mich. Zwischenzeitlich wurde das Unternehmen noch an die Nordisk Transportges. NTS mit Sitz in Frankfurt/Main verkauft, ebenfalls hinzu kam die Projektspedition Züst und Bachmeier ebenfalls im Frankfurter Raum. Mein damaliger Chef, der auf seinen Vater – weiß nicht mehr seinen Vornamen – kam, wurde irgendwann Mitte der 90er-Jahre abgefunden. Er züchtet mittlerweile in Südfrankreich Weinbergschnecken :). Es gibt noch eine Schier Otten Gruppe von einigen Menschen, die sich noch unregelmässig treffen. Angetrieben wird diese Truppe von Michael Flachsel und Dirk Mrotzek. Man trifft sich ab und zu in München auf der Transport & Logistik Messe. Sagt Dir „Kolonne Karlsbad“ etwas? Auch ein Überbleibsel aus der Ära Ende 80er/90er-Jahre.