Die unvergleichliche Lisa Neumann

Lisa im Kreis ihrer Schüler beim Abtanzball 1960

Die Tanzschule des Ehepaares N. befand sich im Ortsteil Heppens und wurde von der platinblonden, herben Lisa und ihrem Ehemann Kalli betrieben. Das geschäftstüchtige Paar  hatte es offenbar verstanden, sich bei den Leitern sämtlicher weiterführender Schulen W’havens lieb Kind zu machen. So erlernte fast jeder ‚gebildete‘ Jugendliche die hohe Kunst des Gesellschaftstanzes in deren Tanzschule. Zur nachmittäglichen Tanzstunde (‚Darf ich bitten zum Tango am Nachmittag …‘ sang damals Gerhard Wendland) musste man sich auf Anweisung von Lisa und Kalli schick anziehen. Was für all jene unter uns, die sich als Gesinnungs- und Leidensgenossen (!) James Deans fühlten, einer Strafe gleichkam. Aber Lisa duldete im wahrsten Sinne des Wortes kein ‚Aus-der-Reihe-tanzen‘ (so war selbstverständlich auch der Wilhelmshavener Ausdruckstanz in N.s Tanzschule verpönt …).

Daher traten die jungen Herren im Anzug an, ganz legere Typen wagten sich sogar im Blazer mit Goldknöpfen dorthin. Die Damen trugen phantasievolle Kleider im aktuellen Kurreesch-Luck oder Schlimmeres. Zu Beginn der ersten Tanzstunde versuchte Lisa den jungen Eleven weiszumachen, dass ein Mensch, der nicht tanzen konnte, lebenslänglich ein gesellschaftlicher Außenseiter bleiben würde. Das konnte uns revolutionär gesinnte junge Männer jedoch kaum beeindrucken. Offenbarte doch die geringe Präsenz all jener der Arbeiterklasse angehörenden netten Mädchen, die man vom Rummel her kannte (meine ersten Freundinnen waren alle Näherinnen!), deutlich den reaktionären Charakter der Tanzschule! Wie auch immer, der gesellschaftskritische Ansatz stand letztlich gegen die verlockende Aussicht auf Kontakte zum anderen Geschlecht auf verlorenem Posten. Für angehende Herzensbrecher aus Bant bot sich hier endlich mal eine Gelegenheit, Umgang mit der Damenwelt jenseits der Klassengrenzen zu pflegen, ohne eine schroffe Abfuhr befürchten zu müssen.

Die Tänzer mussten an beiden Enden eines großen Saales auf unbequemen Stühlen Platz nehmen, die Damen links, die Herren rechts. Dann legte Lisa eine (meist ziemlich ätzende) Platte auf, schnappte sich ihren Kalli und sagte laut: „Cha-cha-cha!“, worauf die beiden über die Tanzfläche wirbelten und zeigten, wie ein solcher auszusehen habe.

Manchmal griff sie sich auch einen der jugendlichen Kavaliere (was nicht selten Anlass zu schlüpfrigen Spekulationen gab!) und demonstrierte den Tanz am lebendigen Objekt. Dann klatschte sie in die Hände und die ganze Meute junger Herren stürzte gemessenen Schrittes auf die andere Seite hinüber, wo eine entsprechende Anzahl junger Damen erwartungsvoll der Dinge harrte, die da kommen mussten. Nach einem hastig gemurmelten „Darf ich bitten?“ konnte dann jeder die Dame seines Herzens oder das, was Schnellere übrig gelassen hatten, zum Tanz führen. Nach kurzer Zeit hatten sich feste Paare gebildet, die immer zusammen tanzten. Wie im richtigen Leben gab es auch in der Tanzschule Mauerblümchen (der Sache gemäß natürlich weiblichen Geschlechts), die fast bis zum Beginn des Tanzes warten mussten, bis der letzte Kavalier sein „Darf ich bitten?“ herausdruckste. Da die Zahl der männlichen und weiblichen Tanzschüler fast immer identisch war, blieb (ganz im Gegensatz zum realen Leben, das noch vor uns lag) letztendlich niemand sitzen. Einer musste in den sauren Apfel beißen! Nicht selten knobelten wir vor Beginn der Tanzstunde aus, wer sich z. B. einer vierschrötigen jungen Dame mit vorstehenden Zähnen anzunehmen hatte. Die hatte um ihr rosa Satinkleid eine schwarze Kordel gewunden und war deshalb unter Eingeweihten als ‚Kordelweib‘ bekannt. Im Anschluss an die Tanzstunde kassierten wir dann den Lohn der Angst.

Zuerst gingen wir mit ihnen ins Café Pinguin (Gökerstraße/Ecke Lilienburgstraße), das berühmt war  für sein Eis – und für Elke, die Tochter des Besitzers. Schwarm aller Primaner! Obwohl mir das Eis bei Italia besser schmeckte. Im Pinguin war übrigens einer der ersten Farbfernseher der Stadt zu bewundern. Damals für viele Leute ein Grund, dorthin zu gehen. Anschließend führten wir unsere Partnerinnen in den Park, wo wir sie abknutschten. Leider fuhr immer dann, wenn es wirklich spannend wurde, der letzte Bus nach Cäci oder sonst wohin … Einige in der Tanzstunde angeknüpfte Beziehungen waren erstaunlich langlebig.

Denke aber keiner, dass in der Tanzschule N. nur veraltete Gesellschaftstänze wie Cha-cha-cha, Wiener Walzer u. ä. gelehrt wurden! Da sei der Verband Deutscher Tanzschullehrer vor: So lernten wir beispielsweise den ‚James Bond‘, von einer unabhängigen Jury zum Tanz des Jahres 1965 (oder war es 66?) gewählt. Auch Modetänze wie ‚Madison‘, ‚Letkiss‘ (auch ‚Letkjajenkka‘ oder so genannt) und Twist waren hier nicht unbekannt, denn Lisa und Kalli gingen mit der Zeit. Anfänglich durften wir Tanzschüler sogar unsere eigenen Scheiben mitbringen. Aber nachdem sie Goofy Kleukers Surfin’ Bird von den Trashmen (https://youtu.be/9Gc4QTqslN4) gehört hatten, war die Geduld von Lisa und Kalli erschöpft.

Höhepunkt und Abschluss des Tanzkurses war der Abtanzball. In der Strandhalle am Südstrand mussten die neu erworbenen Kenntnisse den stolzen Eltern vorgeführt werden. Wehe dem, der dann noch keine feste Partnerin hatte oder dem diese gerade davongelaufen war. Er musste dieses gesellschaftliche Großereignis vor den versammelten Freunden und Verwandten mit einem Mauerblümchen aus einem anderen Kurs bestreiten … Aber was war das alles gegen den Pflichttanz mit der eigenen Mutter! Wer danach immer noch nicht genug hatte, konnte sich zum Fortgeschrittenenkurs anmelden, wo dann auch exotische Tänze wie Tango drankamen. Leider hatte sich zu jener Zeit noch nicht die später verbreitete leichte Bekleidung der Damen durchgesetzt, sodass uns einiges entging. Auf der anderen Seite blieb es uns erspart, das verkrampfte Lächeln der Turniertänzer lächeln zu müssen. Wer wie ich den Fortgeschrittenenkurs bis zum Ende durchhielt, bekam die ‚Silberne Welttanznadel‘ von Lisa ans Revers geheftet, die mich nun endgültig als wahrhaft kultivierten Menschen auswies: Noch heute trage ich sie mit Stolz zu besonderen Anlässen unter meinem Bundesverdienstkreuz!

 

Kalli & Lisa beim Abtanzball. Komisch, irgendwie sahen wir damals jünger aus als heute ...