Wilhelmshaven - wie alles anfing
Über die Geschichte meiner Familie weiß ich leider nicht viel. Väterlicherseits vermag ich sie immerhin bis zu meinem Urgroßvater zurückzuverfolgen. Über die Familie meiner Mutter weiß ich nur, dass sie aus Sachsen stammte und viele ihrer Mitglieder kommunistischen Überzeugungen anhingen. Meine Großmutter wurde in ein KZ gebracht und die einzige Tochter wuchs bei Pflegeeltern auf. In den 60er und 70er-Jahren hatte ich gelegentlich Kontakt zu Familienmitgliedern meiner Mutter in der DDR. Doch zurück zur väterlichen Linie. Der Bau des preußischen Kriegshafens am Jadebusen (1869 auf den Namen Wilhelmshaven getauft) in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts zog zahlreiche Menschen aus dem ganzen Deutschen Reich dorthin. Marineoffiziere und -mannschaften, Verwaltungsbeamte – und natürlich Arbeiter für den Bau der Hafenanlagen. Unter ihnen waren viele aus dem nahen Ostfriesland, denn der Hafen versprach Arbeit, ein regelmäßiges Einkommen und bot zudem noch die Gelegenheit, der Tristesse des Landlebens zu entkommen. Einer dieser Zuwanderer war mein Urgroßvater Johann Bruns I, der 1871 in dem ostfriesischen Dorf Sandbauernschaft (heute ein Stadtteil von Norden/Ostfriesland) geboren wurde. Es dauerte nicht lange, bis er seine spätere Frau Regina de Gaudelle, Sprössling hugenottischer Einwanderer, aus Norden nachholte und ehelichte. Die beiden begründeten eine Sippe, die im Laufe der Zeit auf Hunderte anwuchs! Das Wappen ‚derer von de Gaudelle‘ mit dem Motto ‚Honneur soi a ma pensée‘ (Ehre sei mein Leitgedanke) wird noch heute in Ehren gehalten. Meine Urgroßeltern hatten zehn Kinder, deren ältestes mein Großvater Johann war. Sowohl mein Urgroßvater als auch sein ältester Sohn dienten im 1. Weltkrieg in der Kaiserlichen Marine (Torpedoflotille). Mein Großvater heiratete noch im Krieg eine gewisse Berta Hullmann, mit der er zwei Kinder in die Welt setzte: Meinen Vater und seinen Bruder Rudi, der am 27. Mai 1941 mit dem Schlachtschiff Bismarck unterging. Mein Vater war Kfz-Schlosser, der im Krieg meist in der Etappe eingesetzt war. Das Kriegsende erlebte er mit der Armeegruppe Schörner in der Tschechei, wie man das Gebiet damals nannte. Dort traf er meine Mutter, die aus Dresden stammte und nach der Zerstörung der Stadt am 13. Februar 1945 mit einem Flüchtlingsstrom dorthin gelangt war. Er erzählte uns oft davon, wie sie zusammen nach Kriegsende zu Fuß von dort fast tausend Kilometer durch das
kriegszerstörte Deutschland in seine Heimatstadt gelaufen waren. Im Wilhelmshavener Stadtteil Bant, Heimat der in der ganzen Stadt berüchtigten ‚Banter Briten‚, wurde ich am Heiligabend 1949 geboren. Und verbrachte die ersten neunzehn Jahre meines Lebens in der Jadestadt. Meine Eltern waren einfache Leute und hatten zwei Söhne. Ich bin der Ältere. Mein Vater war ein begabter Handwerker und verdiente sein Geld lange als Fernfahrer. Zu Beginn der 60er-Jahre pachtete er eine Tankstelle in meiner Heimatstadt, die ein paar Jahre lang recht gut lief. Eine schwere Erkrankung meines Vaters leitete den Niedergang ein und er musste seine geliebte Tankstelle aufgeben. Ein schwerer Schlag für ihn, den er nicht verwinden konnte. Er starb im Alter von 54 Jahren. Ein früher Tod war in unserer Familie jedoch eher die Regel als die Ausnahme. Meine Mutter starb mit 56. Mein Großvater erreichte das ‚Rekordalter‘ von 69 Jahren und war dadurch mit Abstand der ‚langlebigste‘ meiner direkten Vorfahren. Im Gegensatz zu meinem Bruder erbte ich nicht das handwerkliche Geschick meines Vaters. Mein Vater schloss daraus: ‚Mein Älterer kann nichts, der muss mal im Büro arbeiten!‘. Ich war ein verträumter Junge, aber immerhin in der Schule ganz gut. Über Umwege schaffte ich die Mittlere Reife und begann – nach einem dreitägigen Intermezzo als Sanitärkaufmann – eine Lehre als Speditionskaufmann. Nach einem Jahr warf ich den Bettel hin und verließ meine Heimatstadt Richtung Berlin.
In der rauen Luft meines Stadtteils war ich ein Außenseiter, der irgendwie dazu gehörte, irgendwie aber auch wieder nicht. Sozusagen ein Wanderer zwischen den Welten. Die meisten Jugendlichen aus unserem Viertel gingen zur Hauptschule und ergriffen Handwerksberufe. Sie verstanden sich als ‚Rocker‘, wie man es damals nannte. Das heißt, sie fuhren Moped/Motorrad und waren Mitglied im Kreidler Klub. Ich hingegen fühlte mich mehr zu den – aus ungeklärten Gründen so genannten – Exis hingezogen. Was mir das Leben nicht erleichterte. Zum Glück spielte mein jüngerer Bruder eine wichtige Rolle im Kreidler Klub, sodass ich in gewisser Hinsicht einen Freibrief hatte. Mein Bekanntenkreis bestand überwiegend aus Gymnasiasten und ‚Intellektuellen‘, um es mal positiv auszudrücken. Und in diesen Kreisen bin ich geblieben.