Mein erster Schultag (1956)

Volksschule Peterstraße damals
... und 55 Jahre später
Der Autor mit seiner Zuckertüte im elterlichen Garten in der Lindenstraße

Die Volksschule Peterstraße war die erste Bildungsstätte meiner  Kindheit. Hier wurde ich zusammen mit zahlreichen Leidensgefährten zum ersten Mal mit dem Ernst des Lebens konfrontiert. Am 2. April 1956 um 8.00 Uhr standen wir nun endlich vor dem riesigen Schulgebäude, das ebenso wie Rektor Sechsstroh drohend auf uns Zwerge herabblickte. Die eine Hand lag schweißnass in der der Mutter, die andere presste die Zuckertüte an den zitternden Körper und der ungewohnte Schulranzen (‚… viel gesünder als eine Aktentasche!‘, versicherte man uns) wurde von Minute zu Minute schwerer. Nach einer kurzen Anschnauze betraten wir das nach Bohnerwachs riechende Gebäude und erreichten nach einem endlos scheinenden Weg über dunkle Flure unser Klassenzimmer. Unterwegs wurden wir noch von den Zweitklässlern verhöhnt: „Erste Klasse Titiflasche, zweite Klasse Aktentasche!“ riefen sie im Chor. In unserem Klassenzimmer angekommen, durften sich jeweils zwei von uns in enge Bänke zwängen (die in der V. Peterstraße stammten lt. WHL noch aus dem Gründungsjahr 1900). 

Und da saßen wir nun und wurden unseren Lehrern bzw. Lehrerinnen vorgestellt, merkwürdigen Gestalten, die ganz anders als unsere Eltern aussahen: Der glatzköpfige Herr Bloch*, ein begnadeter Schlüsselbundwerfer, der joviale Herr Breitwieser, der raubvogelartige Herr Kaupert mit seiner Geige, der immer Kaffeebohnen kaute. Und natürlich unsere Klassenlehrerin, das kränklich ausschauende Fräulein Demmer: „Wenn das mal gut geht!“ sagte meine Mutter und tatsächlich gab Frl. Demmer die Klasse nach ein paar Monaten ab und ward bis zum Jahre 2004 nicht mehr gesehen. Im Sommer jenes Jahres begegnete G. Sudhoff ihr auf dem Wochenmarkt und – wer hätte das gedacht? – sie war quietschfidel! Ihre Stelle nahm Frau Bayer ein, die trefflich mit der Guten Saat umzugehen wusste. 

* Übrigens traf ich die Tochter von Herrn Bloch Anfang des 3. Jahrtausends auf der Seidenstraße, wo ich eine Reise leitete. Sie erzählte mir, dass ihr Vater im Krieg Schlimmes durchgemacht habe und früh verstorben sei.   

So sahen die Klassenzimmer damals aus. Man beachte die Bänke!
Unser Klassenfoto von 1956 mit Frl. Demmer. Der Autor ist leicht zu identifizieren: Ich war der hübscheste Junge!

Ungelenk kritzelten wir zunächst auf Schiefertafeln (mit einem kleinen Schwämmchen dran …) herum, später malten wir krakelige Buchstaben in Hefte. Jede Schulbank besaß zwei Ablagen für die Brause-Pfannefederhalter und ein Tintenfass für zwei, gefüllt mit billiger, von der Schule gestellter Tinte; später durften wir unsere eigene Pelikan-Tinte mitbringen. An der Wand hingen schöne Bilder von Gegenständen wie Ei, Hase, Apfel usw. mit den Bezeichnungen in Schönschreibschrift darunter. 

Die Titelhelden unseres ersten Schulbuches (Die Neue Fibel) waren Willi und Dora, später trat das Lesebuch Die gute Saat an ihre Stelle, das gelegentlich auch benutzt wurde, um den einen oder anderen Schüler unsanft aus dem Schlaf zu reißen. Im ersten Schuljahr (1956) mussten wir für die leidenden Menschen in Ungarn spenden. Der Klassenschrank quoll über von Spielsachen, Kleidung und allem, was wir sonst nicht entbehren konnten.

Unser erstes Rechenbuch - habe Mathe immer gehasst
Peter Wachtel - Musterschüler (Wasserturmschule)
Die Gute Saat - unser erstes Lesebuch

In der Pause vertrieben wir uns die Zeit mit Spielen. Wir Jungen bereiteten uns auf das Erwachsenenleben mit Spielen wie Verfolgung oder Cowboys und Indianer vor. Die Mädchen hingegen spielten Zehnerprobe, Hinkepinke, Seilspringen oder ‚Siebzehn Bauernmädchen‘, eine Wilhelmshavener Abart der ‚Reise nach Jerusalem‘: Die Teilnehmerinnen (immer eine ungerade Anzahl) stellten sich im Kreis auf und sangen immerfort „Siebzehn Bauernmädchen suchen sich ein’ Mann“. Dann gab eine Teilnehmerin ein geheimes Signal, alle Mitspielerinnen rannten in die Mitte des Kreises und suchten sich eine Partnerin. Naturgemäß blieb ein Mädchen übrig, das mit dem folgenden Lied verspottet wurde: „Da steht sie nun und hat kein’ Mann und ärgert sich zu Tode, beim nächsten Mal pass besser auf, du alte Quietschkommode!“. Wer weiß, vielleicht war dieses Spiel ein wichtiger Auslöser der Frauenbewegung 

in Wilhelmshaven, zeigte es doch, dass eine Frau ohne Mann immer ein bedauernswertes Wesen bleiben würde, wie die zahlreichen Kriegerwitwen hinreichend bewiesen … Und so trug bereits damals vielleicht das eine oder andere Mädchen einen Groll gegen das Patriarchat in seinem kleinem Herzen – das Ende ist bekannt (siehe Frauenhaus). Auch vor anderen Diskriminierungen schreckten wir damals nicht zurück – ein Lied ging so: „Ich spiel’ nicht mehr mit dir, dein Hemd ist aus Papier, deine Hose ist aus Blech, du bist mir viel zu frech!“. Was das sollte? Weiß ich doch nicht! Die Toiletten befanden sich auf dem Schulhof in einem separaten Gebäude. Dort konnte man vor Beginn des Unterrichts die Rabauken der Klasse treffen, die dort noch schnell ihre Hausaufgaben von anderen abschrieben – und wehe, man weigerte sich, sie ihnen zu überlassen …

Hier in der V. war es auch, dass mich zum ersten Mal Fernweh überfiel – ein leises, unbeschreibliches Ziehen im Herzen, das mich eines Tages überkam, als ich während des Unterrichts an einem heißen Sommertag einmal über den Schulhof ging (Richtung Toilette) und aus den offenen Fenstern eines Klassenzimmers aus kindlichen Kehlen der Refrain „… Halli-hallo wir fahren, wir fahren in die Welt (ohne Geld)“ erklang – und plötzlich hätte ich alles dafür gegeben, jetzt sofort in die weite Welt zu fahren! Es hat zwar ein bisschen gedauert, aber letztendlich habe ich es geschafft: Auf dem Klassenfoto vermag ich die alten Kameraden nicht einmal mehr zur Hälfte namentlich zu identifizieren. Ein paar sind mir immerhin im Gedächtnis geblieben: Zum einen diejenigen, die mit mir zur Realschule überwechselten,

und natürlich Peter Schwarz, Mitglied der in ganz Bant berüchtigten Sippe. Des weiteren noch meine Klassenkameradin Ilse Borreck, die erst 1959 (?) zu uns stieß. Sie war die Tochter eines Ingenieurs, der in Kuba gearbeitet hatte und nach Castros Revolution in die Heimat zurückkehrte, wo er ein Haus neben der Doofschule bewohnte. Ilse wurde neben mich gesetzt, und nachdem man sich etwas angefreundet hatte, fragte der neugierige Banknachbar Ilse, woher sie denn die große Narbe auf ihrer Wange hätte. Und was sagte die? „Die Narbe stammt von einem Schlangenbiss, den mir in Kuba eine hochgiftige Schlange zugefügt hat!“. Da konnte einem ja fast das Fernweh vergehen! Wie enttäuscht – und gleichzeitig beruhigt – war ich, als mir später Ilses Bruder erzählte, dass die Geschichte gar nicht stimmte …