Die 'Hölle' am Börsenplatz

… war die ‚Insider‘-Bezeichnung für die Spielhalle, die unweit der ‚Sansi-Bar‘ lag. Der Himmel allein weiß, wie viele Tage meiner Jugend ich dort verschwendet habe. Vom Geld gar nicht zu reden. Und ich war beileibe nicht der Einzige! Interessanterweise gab es dort anscheinend keine Klassenschranken. Der Laden wurde von Gymnasiasten ebenso besucht wie von Lehrlingen.

Zwei Gruppen, die sich sonst kaum begegneten. Aber hier standen sie zusammen an den Spielgeräten. Frauen und Mädchen waren dort jedoch nicht gern gesehen, ich erinnere mich mit Schrecken daran, als ein Klassenkamerad mal seine Freundin mitbrachte. Ich weiß bis heute nicht, was er sich dabei gedacht hat …

Walter ist sauer! "Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht am Flipper rütteln?"

In den Augen von Eltern und Lehrern war die ‚Hölle‘ ein Hort der Sünde dargestellt, Vorstufe zu einer kriminellen Karriere oder Schlimmerem. In Wirklichkeit war sie jedoch ein Treffpunkt für Rentner und Heranwachsende! Der Zutritt war – wenn ich mich recht entsinne – erst ab 16 Jahren erlaubt. So wird keiner je den erhebenden Moment vergessen, als er zum ersten Mal den verruchten Platz betrat, ohne sofort wieder hinausgeworfen zu werden. Der Aufseher der ‚Hölle‘ war ein etwa 70-jähriger Rentner, der von allen kameradschaftlich Walter genannt wurde. Er trug als Dienstkleidung einen hörgerätfarbenen Kittel und seine Aufgabe bestand darin, Minderjährige rauszuschmeißen, übermütige Kunden, die an den Automaten rüttelten, zur Räson zu rufen sowie Verzweifelte zu trösten, die die letzte Mark verspielt hatten. In besonders gravierenden Fällen erteilte Walter ‚Höllenverbot‘. Daher war es wichtig, ihn nicht zu sehr zu reizen, denn er konnte einem die sozialen Kontakte erheblich beschneiden – Betroffene waren  vorübergehend gesellschaftlich gestorben.

Wir Jugendlichen standen entweder am Flipper oder am Kicker. Wenn man mit Walter auf gutem Fuß stand, nahm er in leutseligen Momenten den berühmten Schlüssel und stellte einem drei Freispiele ein: Wieder 50 Pfennig gespart! Walter wurde später durch Seppel ersetzt, der im Gegensatz zum stets korrekten Walter legeres Zivil trug. Nie werde ich die Geschichte von dessen Kumpel Karl vergessen, der mit ihm bei der Marine gedient hatte. Karl hatte als junger Mann überhaupt kein Geld, um sich Möbel 

zu kaufen. Aber er wusste schon ganz genau, wie die aussehen sollten und wo sie stehen sollten. Und dann kam der geniale Trick des sparsamen, gewitzten Karl: Er nahm nicht etwa einen Kredit auf, sondern malte sich die Möbel einfach an die Wand. Wenn er dann genug Geld zusammenhatte, sich ein Möbelstück zu kaufen, übertünchte er die Gemälde und stellte an die Stelle das entsprechende Möbelstück. Das war immer ein erhebender Moment, und Seppel war nicht selten Zeuge. ‚So wird’s gemacht, Jungs!’ sagte er zu uns.

Fritz Gammler an der Gypsy Queen
Gottliebs 'Happy Clown'
Hugh Hefner hat seinen eigenen Flipper!

Geflippert habe ich schon als kleiner Junge. Meine erste Begegnung damit erfolgte in Kneipen, die ich mit meinem Opa besuchte. Damit der beim Biertrinken seine Ruhe hatte, gab er seinem Enkel 50 Pfennig, und dieser war beschäftigt. Solche tastenden frühkindlichen Schritte ins Reich des F.s waren natürlich vom semiprofessionellen Spiel pubertärer Jugendlicher Lichtjahre entfernt. Die ernsthafte Spielerkarriere begann in der ‚Hölle‘. Wenn wir es auch nicht so weit brachten wie der taubstumme ‚Tommy‘ aus der gleichnamigen Rockoper der Who, so waren wir doch ganz schön fit! Die Maschinen dort waren noch vom guten alten Schlag, US-Importe der Hersteller Gottlieb und Bally. Mit Verlockungen wie ‚It’s more fun to compete‘ oder ‚1 to 4 players can play‘ lockten sie den jugendlichen Spielsüchtigen die letzten Groschen aus der Tasche. In meinem Falle führte die Flippersucht sogar zum Verlust meiner Lehrstelle: Ich flog nach nicht einmal drei Tagen bei M.F. Tapken raus, weil ich meine Mittagspause lieber in der ‚Hölle‘ verbrachte, statt mit den Kollegen im Pausenraum Stullen zu mampfen … Ich kann nicht sagen, dass mich der Rauswurf beeindruckt hat – im Gegenteil!

 

Ein Spiel an den einfachsten Maschinen wie ‚Rodeo‘ von Gottlieb kostete 20 Pfennig, drei 50 Pfennig. Der Wettkampf an diesen Geräten war Schwerarbeit. Dafür gab es schon bei 300 Punkten ein Freispiel, aber jeder einzelne davon musste hart erkämpft werden. Aber auch nicht zu hart, denn dann hieß es schnell TILT!, der Schrecken eines jeden Flipperspielers. Wenn der Aufseher einen beim Rütteln am Flipper erwischte, gab es richtig Ärger. Zum Trost hatten die Frontscheiben dieser Originalflipper wunderschöne Bilder, in die das Zählwerk integriert war. Spätere inflationäre Tendenzen, die den Preis pro Spiel auf eine DM hochtrieben und bei denen die Zahl der für ein Freispiel benötigten Punkte im Millionenbereich lag, konnten alten Flipperhasen nur ein müdes Lächeln entlocken: Das war doch kein F. mehr, das konnten ja sogar Frauen!

Gottliebs Rodeo - Die Legende!
Kickertisch

Am beliebtesten waren die zwei Kickertische. Wie oben gesagt, waren am Kickertisch und am Flipper alle gleich. So war ein weltfremder, komischer Brillenträger der König am Kicker. Hugo war ein langer schlaksiger Olympia-Lehrling, der mich anfangs ein bisschen an Feller erinnert. In seiner Stammkneipe Café Meier (später Quodlibet) war es praktisch unmöglich, gegen ihn ein Tor zu erzielen: Er gab einem fünf Tore vor und gewann 6:5! Wer es schaffte, ein einziges lächerliches Tor gegen ihn zu schießen, konnte hundert Mark sein eigen nennen, wogegen Hugo nur fünf Mark erhielt, wenn dem Gegner kein Treffer gelang. Er war jedoch nicht nur im Café Meier unschlagbar, auch in der Hölle fand er fast nie einen gleichwertigen Gegner. Sein Ruhm sprach sich bis F’Töng herum und die Jungs aus der Nordstadt kamen, um ‚King Hugo‘ herauszufordern. Meist vergeblich, denn wenn er den Ball mit einem Spieler festklemmte und an seiner Brille rückte, konnte er praktisch schon seinen Torzähler eins vorstellen …

Später begann Hugo, Singles zu sammeln: Mit einer unvorstellbaren Sammelwut erwarb er sich schnell den Ehrentitel Singlekönig. Er hatte praktisch alle Scheiben, sogar Along comes Mary – die berüchtigte (vermeintliche) Drogenplatte (Mary = Marihuana!)  … Das alles war vorbei, als er sich ein neues Hobby suchte: Mädchen. Er fand tatsächlich eines, was ein weiterer Beweis für seine Findigkeit war. Man muss dazu wissen, dass Hugo so schlimm aussah, dass er trotz mehrfacher Versuche nicht nach Holland, dem Land unserer Träume, einreisen durfte. Bei der Grenzkontrolle zeigte H. seinen Personalausweis und die Grenzer gaben daraufhin vor, ihm wegen seines Alters Einreiseverbot zu erteilen. In Wirklichkeit jedoch diente die Maßnahme dem Schutz der niederländischen Öffentlichkeit. Aber der clevere H. schaffte es trotzdem: Er klebte auf sein Passfoto im Personalausweis das Bild eines Schweinekopfes mit Sonnenbrille, das er aus einem Blodwyn-Pig-LP-Cover ausgeschnitten hatte – und passierte die Grenze bei Nieuwe Schans ohne Beanstandungen; vermutlich weil für die Holländer alle ‚Rotmofs‘ ohnehin wie Schweine aussahen.

Wie die meisten von uns wurde Hugo nach der Lehre bei Olympia zum Bund gezogen, wo er in Wildeshausen die von den Fallschirmspringern als ‚Bumsköppe‘ verhöhnten Artilleristen verstärkte. Um seine Freundin bei der Stange zu halten, verkaufte er seine gesamte Plattensammlung. Nicht jedoch, ohne sie vorher auf Kleinsttonbänder aufgenommen zu haben, die er in beim Bund geklauten Munitionskisten aufbewahrte. Als seine Schallplattenver-

käufe und der Wehrsold nicht mehr ausreichten, die Ansprüche seiner Freundin zu befriedigen, verlegte sich der mathematisch nicht unbegabte H. auf Lottotipps. Schon gegen Zahlung von 600 DM konnte man bei ihm einen todsicheren Sechser kaufen. Leider hatte keiner seiner jugendlichen Ansprechpartner so viel Geld zur Hand, wodurch die Lottogesellschaft Niedersachsen haarscharf der Pleite entging.