West-Berliner Flohmärkte - Der Krempelmarkt
Doch das entwürdigende Erlebnis an der Würstchenbude war noch nicht die Talsohle für mich. Eines Tages beschloss das Tiefbauamt Charlottenburg, dass auf dem Marktgelände irgendwelche Heizungsrohre verlegt werden mussten – 17. Juni ade! In letzter Sekunde fand der Marktbetreiber einen Ausweichplatz: Eine von Unkraut überwucherte Ruderalfläche am Reichpietschufer. In Händlerkreisen allgemein Reichspietschufer genannt. Obwohl mir keiner erklären konnte, was ein Pietsch ist. Matrose Max Reichpietsch vom Linienschiff Friedrich der Große – einer der Helden des Matrosenaufstandes in meiner Heimatstadt! 1917 ebenso wie sein revolutionärer Kollege Albin Köbis erschossen, weil er beanstandet hatte, dass es auf seinem Kriegsschiff Friedrich der Große kein Brot gab! Vergessen! Der Senat hatte das Gelände 1988 gegen ein paar Exklaven am Arsch der Heide (Wüste Mark und so … ) und reichlich Bargeld mit dem Osten getauscht. Das Unkraut hatte keine Schnitte gegen uns und unsere Kundschaft. Nach drei Wochenenden war es vernichtet. Niedergetreten, unter Müllhalden verschwunden, abgebrannt – ein ganzes Biotop war der Gier zum Opfer gefallen! Wer weiß, was da für seltene Pflanzen standen, bevor der Flohmarkt sich dort ausbreitete. Befand sich hier womöglich eine Brutstätte des extrem gefährdeten Wachtelkönigs? Kein Mensch vermag das heute mehr sagen, denn die AL (Alternative Liste) war damals damit beschäftigt, am Sachsendamm ’ne Amphibienbrücke durchzusetzen. Und am Reichpietschufer wurden derweil Gelbbauchunken durch ganz ordinäre Kröten aus Papier und Metall verdrängt! Heute steht auf dem Gelände die piekfeine Daimler City …
Dort, am Reichpietschufer, wurde mir eines klar: Entweder finde ich eine andere Geldquelle oder ich gehe zugrunde! Die Erniedrigungen schienen kein Ende zu nehmen. War es nicht schon schlimm genug, dass sich die Banausen von Marktbesuchern über unsere gehäkelten indischen Lampen beeumelten („Ah, kieka, Muttan: ‘Ne Fischreuse!“)? Nein! Da pissten die Köter auch noch an unsere etwa 1.80 Meter langen 11-Ring-Spezial-Lampen. Was wir erst merkten, als es bei uns im Lager so merkwürdig roch. Von da an schützten wir die wertvollen Lampen mit Klarsichtfolie. Was allerdings dem Verkauf nicht gerade förderlich war. Wie auch immer: Mit unseren Direktimporten dumpten wir alle Wettbewerber gnadenlos vom Markt! Wir hatten das Lampenmonopol! Oder nehmen wir den Regen. Der hatte die unangenehme Eigenschaft, sich in den Plastikplanen zu sammeln, mit denen die Stände überdacht waren. Wenn sie gut gefüllt waren, konnte man darauf wetten, dass ein Windstoß kam. Und die ganze Ladung Wasser auf die nepalesischen Reispapierbilder klatschte. Scheiße! Bei Schnee war es auch nicht besser, weil sich der ganze Markt in eine Schlammwüste verwandelte.
Ich entsinne mich an einen sehr ungemütlichen Wintertag. Mein Kumpel Yves machte den Stand auf dem 17. Juni, ich den auf dem Krempelmarkt. Nachdem er abgebaut hatte, kam er und erlöste mich. Die Sachen waren schon gepackt. Nur die indische Feinwaage aus Benares stand auf dem Tisch, weil sie in keinen Transportbehälter passte. Ich lief ein wenig herum, um mir die Beine zu vertreten: Die Gesichter der Kollegen an diesem kalten Wintertag waren so grau wie der Hackepeter auf den pappigen Schrippen, die man heute nicht losgeworden war. Na, dann halt morgen … Plötzlich bemerkte ich, dass überall Zeitungspapier und Verpackungsmaterial herumflog. Von der Philharmonie her tanzte eine Windhose aus Staub und Papier über den Markt! So was war mir hierzulande noch nie begegnet! Und wo tanzte sie hin? Genau in Richtung meines Standes! Wohin auch sonst? Ich rannte zurück, um zu retten, was zu retten war. Aber es war zu spät: Die Windhose erfasste den Stand und warf ihn samt der Waren in den Zaun der U-Bahn-Gleisanlage. Ich dachte, mein Schwein pfeift bzw. mein Muli humpelt oder mein Hamster bohnert! (Zitiert nach: Die Zwei)! Wie auch immer, der Wirbel tanzte weiter auf die andere Seite der Gleisanlage – unglaublich! Ich machte mich daran, meine Siebensachen wieder zusammen zu suchen. Und fand die Feinwaage – sie war heil, bis auf einen langen Hebel, der verbogen war. Zum Glück ließ er sich wieder zurechtbiegen und am nächsten Tag kaufte sie jemand.