Das erste Mal in Burma
Als ich Ende Oktober 2016 auf dem internationalen Flughafen in Yangon ankam und über die neuen Flyover die von glitzernden Fassaden geprägte Pyay Road hinunterfuhr, kam mir in den Sinn, wie es damals vor 40 Jahren war, als ich zum ersten Mal in Rangoon landete. Seinerzeit flog pro Tag eine Maschine der THAI und gelegentlich eine der burmesischen Staatsairline den sehr überschaubaren Airport RGN an. Heute dagegen landen täglich Dutzende von internationalen Flügen in Yangon. Und zwar bei Tag und bei Nacht! Sehr zum Leidwesen der lärmgeplagten Anwohner!
Ein hellblauer Buick Super 51 Sedan (Baujahr 1946) rast mit Standlicht durch die burmesische Hauptstadt Rangoon. Die Karre klappert an allen Ecken und Enden, aber das scheint den Fahrer nicht weiter zu stören. Ebenso wenig die Tatsache, dass man die Fenster nur halb hochkurbeln kann und es hereinregnet. Das Taxi ist auf dem Weg vom Rangooner Flughafen Mingaladon zur Innenstadt. Es regnet in Strömen und es ist stockdunkel. Nur ab und zu blitzt ein Licht am Straßenrand auf: eine Neonlampe, eine Kerze, eine flackernde Glühbirne. Gelegentlich kommt ein Auto entgegen, dann wieder überholt das Taxi eine Rikscha. An Bord drei Hippies (darunter der Chronist), die sich wundern: Rangoon soll eine Millionenstadt sein! Wir haben seit der Abfahrt vom Flughafen keinen Menschen mehr gesehen. Was ist hier los? Wo sind die Millionen? Der Fahrer ist ein einäugiger Inder, der sich uns als One Eyed Joe vorstellte. Ein fetter, ungepflegter Mann. Seine Kleidung besteht aus einem verschwitzten Unterhemd, einem Wickelrock und Gummilatschen. Und er ist äußerst redselig!
Er versucht, uns unsere mitgebrachten Schätze zum Schnäppchenpreis abzuschwatzen: Drei Flaschen Johnny Walker Red Label und drei Stangen Triple Five Zigaretten. Wir wimmeln ihn ab – von der Masche haben wir schon gehört. Morgen bekommen wir das Doppelte dafür! Außerdem haben wir es schon burmesisches Geld! Bei einem indischen Money Changer in Penang kauften wir es zur Rate von 20 Kyat für einen Dollar – dreimal so hoch wie der offizielle Kurs.
Schließlich erreichten wir das Thamada-Hotel, eines der besseren unter den sieben in der Stadt, die damals Ausländer aufnehmen durften. Es erschien uns recht herunter gekommen. Und doch war es hotelmäßig der Höhepunkt unserer Burmareise! Wir sollten noch ganz anderes sehen … Nachdem wir unsere Pässe und die Money Form vorgelegt hatten, konnten wir einchecken. Wir bekamen unsere bescheidenen Zimmer – immerhin mit Aircondition. Rangoons Restaurantszene war ausgesprochen überschaubar: Neben den Hotelrestaurants gab es nur zwei weitere, die von der kleinen ausländischen Gemeinde als ’sicher‘ angesehen wurden: Das Red Ruby in der Bo Aung Kyaw Street gegenüber der Hauptpost und Burma Kitchen in der Shwegondine Road. Beide existieren noch heute. Ersteres unter seinem alten Namen und Letzteres ist seit langem ein japanisches Restaurant und heißt Furusato.
Daher gingen wir in das im 1. Stock gelegene Restaurant des Hotels. Dort sah ich zum ersten Mal jene Speisekarte, die in allen staatlichen Herbergen des Landes identisch war. In Yangon gab es manchmal sogar Lobster Thermidor. Der Kellner war erstaunlich elegant gekleidet, er trug eine schwarze Hose, sein sauberstes dreckiges weißes Hemd und eine Fliege. Ein Anflug von Noblesse in einem an die DDR gemahnenden Ambiente. Sogar Schuhe hatte er an! Er servierte fachgerecht unser Essen, vor allem gefiel mir, wie er die Erben von der Platte mit Messer und Gabel auf meinen Teller beförderte. Das Gefühl, dass dieses Land eine irgendwie in die Tropen gelangte DDR war, verließ mich über einen langen Zeitraum nicht. Und ich liebte es! Anschließend gingen wir aufs Zimmer und ließen die Geschehnisse des Tages Revue passieren: What a day!
Nach einer kurzen, aber lebhaften Nacht mit meiner kleinen Thai-Freundin Nit im Atlanta Hotel Bangkok hatte es morgens um sechs heftig an der Tür geklopft. ‘Open up! Police!‘. Hätte ich eine Hose angehabt, wäre mir sicher das Herz hineingerutscht! Ich warf mir eines der ausgelutschten Atlanta-Handtücher um die Hüften und öffnete die Tür. Vor mir standen zwei Bullen mit finsteren Gesichtern. Sie ignorierten das Mädel, das ängstlich an die Rückwand des Doppelbettes gelehnt saß, die Bettdecke bis zur Nase hochgezogen. Und hoben die Matratzen hoch. Darunter lagen die von mir am Vortag als gestohlen gemeldeten Travellerschecks. Ich sah mich schon im Gefängnis, dem berüchtigten Bangkok Hilton. Doch sie ließen die Matratze wieder runter. Dann widmeten sie sich meinem Gepäck: dem Rucksack und meinem Krokodilleder-Diplomatenkoffer, den ich als Pfand für geliehene 70 DM von Robert Weide bekommen hatte. Nach einer kurzen Durchsuchung des Zimmers verabschiedeten sie sich. Nur ’ne Rauschgiftrazzia – Schwein gehabt …
Nachdem wir den Schreck verdaut hatten, legten wir uns wieder hin und kuschelten noch ein bisschen. Dann um 9 Uhr runter zum Frühstück. Dort trafen wir Robert Weide, der mir bei dieser Gelegenheit mein Geld wiedergeben sollte. Wie zu erwarten, hatte er es nicht besorgen können. So wurde ich Eigentümer eines Kroko-Diplomatenkoffers. Passte sehr gut zu meinem amerikanischen Army-Rucksack! Ein paar Wochen später tauschte ich den Koffer in Delhi gegen einen Haufen gehäkelter Baumwolllampen. Sie bildeten die Grundlage für meine Handelsgeschäfte, die mich vom Flohmarkt über einen edlen Laden am Berliner Kudamm bis zu einem Geschäft am Bahnhof Zoo führten.
Die Zeit bis zum frühen Nachmittag verbrachten wir am Swimmingpool des Hotels.
Dann ging es mit dem Bus (Aircon No. 11) zum Bangkoker Flughafen Don Mueang. Wir (mein Freund Yves, ein Belgier namens Philippe und ich) hatten einen Flug mit Burma Airways von Bangkok nach Kathmandu gebucht. Mit Stopover in Rangoon. Im Duty-Free-Shop am Flughafen kauften sich jeder von uns eine Flasche Johnny Walker Red Label und eine Stange 555-Zigaretten. Von der Marke hatte ich noch nie was gehört, aber in Burma war sie offenbar sehr beliebt. Gerüchten zufolge konnte man vom Verkaufserlös eine Woche in dem Land finanzieren. Mit Ausnahme von Hotels und Tickets für Flüge und die Eisenbahn. Der Flieger der Burma Airways sah nicht besonders vertrauenerweckend aus: Eine alte Fokker Friendship, in der mal gerade 52 Passagiere Platz fanden. Als wir unser Gepäck in der Ablage verstauen wollten, staunten wir nicht schlecht: Alle Fächer waren voll mit Johnny Walker und 555-Kartons.
Die recht hübschen Stewardessen baten uns, das Gepäck unter dem Sitz zu verstauen. Wer kann schon einer jungen Dame einen solchen Wunsch abschlagen? Zumal es nur ein kurzer Flug von etwas mehr als einer Stunde war. Immerhin gab es Bordverpflegung. Jeder von uns bekam einen weißen Karton. Als ich ihn öffnete, spazierte da ganz frech eine Kakerlake heraus. Unfassbar! Aber der Kuchen (in Plastik eingewickelt) und die Orange waren o. k. … Als wir ankamen, regnete es in Strömen. Leute mit Regenschirmen geleiteten uns vom Flieger zur Immigration. Der Flughafen war sehr übersichtlich und die Abfertigung schnell erledigt.
Das Komplizierteste war noch das Ausfüllen der sog. ‚Form‘ – hier mussten alle mitgeführten Zahlungsmittel eingetragen werden, die man dann gegen lokale Währung eintauschen konnte. Alles war in Kyat zu bezahlen. Jede Transaktion (Umtausch, Übernachtung, Bahnfahrt, Flug) wurde auf der Form eingetragen. Wenn nicht mehr genug drauf war, musste man nachtauschen – sehr kompliziert und es erinnerte mich an die DDR. Wie es übrigens eine ganze Reihe von Parallelen zum Mauerstaat gab. Aber die Leute waren von so umwerfender Freundlichkeit, dass man diese kleinen Unannehmlichkeiten getrost vergessen konnte. Vor dem Flughafen erwartete uns eine wild gestikulierende Horde von Schleppern und Taxifahrern, die uns zu völlig überhöhten Preisen zum Hotel bringen wollten. Aber nicht mit uns! Wir handelten den Fahrer auf einen Dollar runter und los ging die Fahrt.
Wir konnten vor unserem Besuch dort mit dem Namen Burma wenig anfangen. Das Land war damals eher noch unbekannter, als es heute ist: 20.000 Besucher (von den Touristen sicher nur einen Bruchteil darstellten) pro Jahr hatten sich 1977 dorthin verirrt. Wir waren also in exklusiver Gesellschaft. Viele Leute ließen sich davon abschrecken, dass man nur eine Woche im Lande bleiben durfte. Aber da es für uns ein Zwischenstopp war, störte es uns nicht. Dieser Besuch sollte mein Leben verändern. Wir (d. h. ich und mein Kumpel Uwe) hatten etwa die Hälfte unserer ersten großen Reise von Bali bis Sri Lanka (überwiegend ‚overland’) hinter uns gebracht und uns in Penang überlegt, dass wir doch eigentlich auf dem Weg von Bangkok nach Kathmandu einen Stopp in Burma einlegen könnten.
Am nächsten Morgen bummelten wir durch die Downtown. Unsere Zigaretten und den Whisky waren wir schnell los: 300 % Profit, not bad! Das waren echte Statussymbole! Viele Burmesen hatten sie in ihren Regalen stehen. Neben Familienfotos und Schnickschnack. Wenn die Flasche leer war, wurde sie mit Tee gefüllt und so getan, als ob! Sie dienten (mancherorts bis heute!) auch als halboffizielles amtliches Maß, z. B. wurde Benzin darin verkauft. One Eyed Joe hatte uns erzählt, dass wir unbedingt die May Hla Mu Pagode in Myauk Okkalapa besuchen müssten. Das Highlight schlechthin. Und gut für seine Kasse! Wir wähnten uns schon halb im Dschungel. Nachmittags besichtigten wir die Shwedagon-Pagode im Regen.
Auf den Straßen gab es kaum Autos. Neben klapprigen Straßenkreuzern sah man ein paar englische Austins und burmesische Koproduktionen mit der japanischen Firma Mazda. Aber ohne Wankel-Motor. Dafür stolze 360 oder sogar 600 ccm. Die mit vier Rädern (immer blau!) erinnerten an den DDR-Trabi, die mit dreien (auch Mazda-Kooperation) an den 50er Borgward Goliath. Auffallend war das Fehlen von Zweirädern. Wie wir später hörten, waren die in Yangon verboten! Ein echter Knaller waren die Busse: Uralte grüne Bedfords und Chevrolets aus den 40er-Jahren! Umgebaute Militär-Lkws aus Kanada mit Holzaufbauten! Die Destinationen konnte man nicht lesen, alles in Brezelschrift. Und die Leute saßen darin, als wenn es das Normalste von der Welt sei, in so einem antiken Teil herumzufahren. Bis dahin hätte ich das eher als Jahrmarktsattraktion betrachtet.
Abends noch schnell zu Tourist Burma an der Sule-Pagode, wo wir uns Zugtickets nach Mandalay für den nächsten Tag kauften. Abschließend ein kleiner Bummel durch die Gassen in der Nähe des Büros. Es war eine zauberhafte Atmosphäre: Jugendliche saßen an den Straßen und sangen zu Gitarrenbegleitung. Als wir vorbeiliefen, gab es ein großes Hallo und sie grüßten uns freundlich. In Rangoon waren Ausländer offenbar eine Seltenheit! Aber auch hier keine Autos zu sehen. Die Leute saßen in ihren zur Straße offenen Wohnungen, man konnte sozusagen an ihrem Leben teilhaben. Und dann sahen wir auch, wo die Autos waren: Sie standen in den Wohnungen! Wir hatten uns schon gewundert, wofür die Rampen waren, die von der Straße in einige Apartments führten. Offenbar stellten Autos hier einen großen Wert dar und mussten vor Dieben geschützt werden. Und so saßen sie dort hinter ihren Scherengittern beim Schein der Neonröhren, hörten Radio, schwatzten – oder schauten sich ihre Karre an! Fernsehen gab es damals noch nicht, das wurde in Burma erst zehn Jahre nach unserem Besuch eingeführt! Auffallend war, dass die Leute anscheinend ein großes Sicherheitsbedürfnis hatten. Nicht nur die Parterrewohnungen – was man ja verstehen könnte – waren mit Scherengittern gesichert. Auch die Fenster in den oberen Geschossen waren vergittert. Das schien ja hier eine gefährliche Gegend zu sein …
Der Zug nach Mandalay fuhr um 6 Uhr morgens ab. Der Bahnhof erinnerte mich an Filme aus den 30er-Jahren. Es war dunkel, die Leute lagen auf den Bahnsteigen, oft in Decken eingehüllt. Meinen Krokoleder-Diplomatenkoffer hatte ich im Hotel zur Aufbewahrung abgegeben. Immerhin wurde der Zug von einer Diesellok gezogen. Ich erinnere mich, dass die Bahnstrecke in weiten Gebieten völlig unter Wasser stand, man sah über Kilometer hin kein Gleis. Aber Spaß machte es! Wir erreichten Mandalay um zehn Uhr am Abend. Und wurden schon ‚erwartet’! Von den Mitarbeitern des Toyota-Express. Das waren Leute, die Fahrten für Hippies in Upper Burma organisierten. Bis zu zehn Mann auf dem Toyota Pickup, Gepäck auf dem Dach. Empfindliche Gemüter durften gegen Aufpreis im Fahrerhäuschen sitzen. Mandalay-Bagan-Inle-Mandalay in vier Tagen. Nichts für Weicheier. Und absolut nicht zu empfehlen! Wir folgten einem Schlepper zu einer Bruchbude namens Mann Shwe Myo. Am nächsten Tag besichtigten wir die üblichen Sehenswürdigkeiten, darunter den Mandalay Hill. Wenn ich mich recht entsinne, besuchten wir auch den Mahamuni-Buddha aber er machte offenbar keinen bleibenden Eindruck auf mich. Super war es am Ufer des Irrawaddy, wie der Ayeyarwady damals noch hieß: Direkt vor dem Deich stand ein Pfahldorf und dort tobte das Leben. Der Höhepunkt jedoch waren die Wasserbüffel, die die schweren Teakholzstämme aus dem Wasser den Damm hinauf zogen. Manchmal waren auch uralte LKWs im Einsatz und wenn die es nicht schafften, wurden ein paar der großen Tiere davor gespannt und dann lief die Chose! Auffallend waren die Kinder: Alle sehr freundlich und jedes machte mit den Finger das V-Zeichen und rief laut „Peace! Peace!“ – was das sollte, weiß ich nicht. Hatten vielleicht ein paar Hippies eingeführt, die das Land besuchten.
Von Mandalay flogen wir nach Bagan, wo wir im Moe Moe Guesthouse wohnten – für ganze drei Dollar! Damals lag das Dorf noch innerhalb der alten Stadtmauer und hatte eine ganz bezaubernde Atmosphäre. 1990 wurden die Bewohner zum Umzug gezwungen – die Siedlung Neu-Bagan entstand etwa 5 km flussabwärts. Allerdings muss ich hier auch mal eines klarstellen: Dieselben Leute, die heute in großen Häusern in Neu-Bagan wohnen und immer noch ihrem alten Dorf nachweinen, haben anscheinend vergessen, wie es dort aussah und wie sie da gelebt haben. Die meisten wohnten in bescheidenen Gebäuden, viele davon aus Bambus gebaut. Die Grundstücke waren klein und die Leute arm. Heute dürfte es eines der reichsten Dörfer im ganzen Lande sein, denn es wurde zur Hotelzone erklärt. Die Bewohner bekamen große Grundstücke zugewiesen, die sie z. T. für gutes Geld an die Hotels verkauften. Mein Freund Aye Thwin war lange einer der wenigen, die zugaben, dass der Umzug ein Segen war. Das große Erdbeben von 1975 lag damals gerade zwei Jahre zurück und ganz Bagan war eine Baustelle. Aber eine imponierende! Es war umwerfend! Wir mieteten uns eine Pferdekutsche und fuhren von Tempel zu Tempel. Damals konnte man noch auf alle Heiligtümer klettern, was schon lange verboten ist. Die beste Aussicht hatte man vom Thatbyinnyu-Tempel, dem höchsten von Bagan. Die Sonnenuntergänge von da oben habe ich nie vergessen. Mit Glück und Geschick gelang es uns, Flugtickets nach Rangoon zu ergattern. Ich war völlig begeistert von meinem ersten Besuch in Burma und schwor mir, dass dies nicht mein Letzter hierzulande war – dass ich aber schon drei Monate später wieder dort sein würde, hätte ich nicht gedacht!