Weihnachten in Wilhelmshaven

Nun singet und seid froh, in dulce jubilo - ohne mich!

auch ‚Heiliger Abend‘ oder ‚Das Fest‘ genannt. Unglücklicherweise fällt mein Geburtstag ausgerechnet auf diesen Tag, an dem kein Mensch Zeit hatte, zu einer Geburtstagsfeier zu kommen. Immerhin bekam ich an dem Tag zweimal Geschenke: Morgens Geburtstagsgeschenke und am Abend Weihnachtsgeschenke.   Deswegen habe ich meine erste ‚richtige‘ Geburtstagsfeier am Heiligen Abend erst im reifen Alter von 51 Jahren begangen. Im buddhistischen  Burma, wo sich kein Mensch für Weihnachten interessiert. Doch zurück zur Sache: Nachmittags schmückte der Vater den Christbaum in der Stube, die bereits seit dem Vorabend gesperrt war. Gegen sechs Uhr, nachdem der Kartoffelsalat mit Frikadellen endlich verzehrt war, durften alle schließlich die lichterglänzende gute Stube betreten. Von einer Schallplatte erklangen die Regensburger Domspatzen (oder waren es die Wiener Sängerknaben oder gar der kommunistische Dresdener Kreuzchor?) und sangen Weihnachtslieder wie Stille Nacht, dazu bimmelten irgendwelche Glocken. Im Fenster leuchtete die Kerze für unsere Brüder und Schwestern im Osten, die diesen Tag wegen der gottlosen Kommunisten nicht Weihnachten und Engel nicht Engel (sie mussten ‚geflügelte Jahresendfigur‘ sagen: Wer das nicht tat, wurde an die Wand gestellt!) nennen durften. Aber ihre Weihnachtspyramiden und Nussknacker aus dem Erzgebirge wollten die Dreckskerle uns immer gern andrehen, und Spielwaren-Finke in der Virchowstraße machte sogar mit bei der Farce.

 

Hands up at Christmas

Und wenn die Mutter im Herbst Zutaten für den Dresdner Christstollen in ihre Heimatstadt schickte (nur dort konnte man ihn ihrer Überzeugung nach richtig backen), war stets Verlass darauf, dass sich die Kommies erst mal genüsslich an der Sukkade, den Mandeln und Rosinen labten, bevor sie dann die kümmerlichen Reste in dem von uns bezahlten Stollen verarbeiteten. Es versteht sich von selbst, dass ich es strikt ablehnte, auch nur ein Stück von diesem Kommunistenkuchen zu essen! Zum Glück gab es ja die Nürnberger Lebkuchenkiste …

Aber wir im Freien Westen durften das Fest so begehen, wie es sich gehörte, wenn auch die ersehnte ‚Weiße Weihnacht‘ meist dem üblichen W’havener Schmuddelwetter zum Opfer fiel. Da saßen nun alle und packten die Geschenke aus: Wir Kinder die Ritterburgen und Blechbagger, die Mutter praktische Dinge wie Föhn oder Bügeleisen und der  Vater die von ihm besonders geschätzten Manschettenknöpfe und Schlipse. Kurze Zeit später kam der Opa mit der bei seinem Sohn nicht gern gesehenen zweiten Frau (Österreicherin!) und brachte seine Geschenke. Dann stießen die Erwachsenen mit ‚Deinhard Lila‘ und wir Kinder mit Klötenköm an: „Frohes Fest!“. Wenn es dann richtig gemütlich war, wurde Radio Norddeich eingeschaltet: „Ahoi! Hier Radio Norddeich! Wir rufen ‚MS Preußen‘, gerade zwischen Madagaskar und Bombay unterwegs! Bitte melden!“ … rausch, knister, rausch … und dann eine dünne Stimme aus unendlicher Ferne:

„Ahoi, Radio Norddeich! Hier ‚MS Preußen‘, Leichtmatrose Hein Daddel am Funkgerät!“. „Was machen Sie gerade, Herr Daddel?“ – „Oooch, wir sitzen hier mit der Mannschaft vor dem Weihnachtsbaum, der seit Oktober bei uns im Kühlraum steht, trinken Rum und essen ’ne Weihnachtsgans!“ – „Was, ’ne Weihnachtsgans mitten auf‘m Indischen Ozean?“ – „Na klar, Mann!“. „Na, dann Ihnen und Ihren Kollegen weiter guten Appetit! Herr Daddel, wir haben eine Überraschung für Sie!“ – „Waaaas, ’ne Überraschung? Schießen Sie los!“. Sprecher blendet Daddel kurz aus und sagt in vertraulichem Ton zum Hörer: „Wir verbinden jetzt mit Frau Daddel in Blexen/Unterweser!“. „Hallo, Frau Daddel, hören Sie uns?“. „Ja, ich höre!“ – „Frau Daddel, hier ist Radio Norddeich, wir haben eine Überraschung für Sie!“. „Ooohh, dascha man schön!“. Und dann weinte Frau Daddel immer, wenn sie mit ihrem Mann sprach. Anschließend durften auch die Kinder mitreden: „Papa, Papa, wann kommst du endlich nach Hause?“ riefen sie aufgeregt. Und die alten Seebären, die alle Sieben Meere befahren hatten, den Stürmen vor Kap Hoorn genau so getrotzt hatten wie den schönen Mädchen in den Hafenkneipen zwischen Shanghai und Piräus (und zwar via Hawaii!), antworteten mit brüchiger Stimme: „Bald, Kinder! Nächste Weihnachten sitzen wir zusammen unterm Christbaum, versprochen, Ahoi!“. Nach ein paar Gesprächen dieser Art schaltete der Vater dann ab und sagte salbungsvoll: „Seht ihr, Jungs, wie gut wir es haben? Wir können hier gemütlich beisammensitzen, aber diese armen Leute sind durch Tausende von Seemeilen getrennt!“. Mensch, waren wir froh!