Sonntag an der Nordseeküste

Der Sonntag war fast die ganze Jugend hindurch der schlimmste Tag der ganzen Woche für Kinder und Jugendliche. Er begann relativ angenehm, war er doch der einzige Tag, an dem man ausschlafen konnte, zumindest so lange der Sonnabend noch Schultag war. Frühaufsteher konnten sich sogar die Spiele der Kreisklasse anschauen. Mit der Konfer-Zeit war die Zeit des Ausschlafens beendet, mußte man doch um 9 Uhr morgens in der Kirche antreten, um sich seinen Stempel abzuholen und der Predigt lauschen – immerhin konnte man damit noch Geld verdienen. Echt schlimm war, dass man ‚Sonntagskleidung‘ anziehen musste: Kratzige Hosen, den neuen ‚Pfeffer-und-Salz-Mantel‘, Nyltest-Hemden und was der Kleiderschrank noch so

hergab. Und die allseits beliebten drückenden ‚Sonntagsschuhe‘. Die mussten natürlich erst mal im ‚Wintergarten‘ geputzt werden! Und dann wurde das Ergebnis vom Vater kontrolliert: „Was ist das denn? Der Steg* ist ja gar nicht geputzt! Wenn ich solche Schuhe beim Stubenappell der Wehrmacht vorgezeigt hätte, hätten sie mich gleich an die Wand gestellt! Oder mindestens drei Monate Latrinendienst“.  Zum Glück kamen irgendwann mal Wildlederschuhe in Mode, die man nur noch einsprayen musste.           *so nannte er den Zwischenraum zwischen Absatz und Sohle.

Doch dann wurde es ernst: Mittagessen! Es gab meist Rouladen oder Schweinebraten mit einer dicken Soße und dazu Salzkartoffeln. Als Gemüse wurde Rotkohl aus dem Glas von Firma Kühne gereicht, später die ganz modernen ‚Erbsen und Wurzeln‘ aus dem Gefrierfach! Zum Nachtisch gab es zwei Varianten: entweder Vanillepudding aus der Tüte, über den Himbeersirup aus der Flasche gegossen wurde, oder Schokoladenpudding mit Vanillesoße (von Dr. Oetker). Das Ganze wurde musikalisch von den ‚Lustigen Musikanten‘ des Deutschlandfunks, der absoluten Lieblingssendung aller Väter, untermalt. Während der Vater zum Takt der Polka mit den Füßen wippte, verging den Kindern der Appetit. Ernst Mosch und die Egerländer, Slavko Avsenik und seine ‚Original Oberkrainer‘ schlagen noch heute, Jahrzehnte später, vielen damals Betroffenen auf den Magen.

Heinz Mägerlein - unerreicht!
Björn Wirkola

Anschließend hieß die Parole Mittagsschlaf! Über die Zeit, als wir Kinder noch zum Mittagsschlaf gezwungen wurden, hat das Vergessen gnädig seinen Mantel gedeckt. Aber nicht darüber, daß der an diesem Tag meist anwesende Vater sich nach den Mittagessen im Wohnzimmer auf die Couch legte statt ins Schlafzimmer zur Mutter, wo er hingehörte. Ergebnis war, daß man im Wohnzimmer weder der „Top Twenty“ im Radio lauschen noch Schallplatten auflegen durfte. Auch der Fernseher mußte ausbleiben, es sei denn, es liefen „interessante Sportveranstaltungen wie die ‚Vierschanzentournee‘, bei denen der Vater

regelmäßig nach drei Minuten einschlief. Jedoch – er mochte so tief schlafen, wie er wollte, sobald man auf den anderen Kanal schaltete oder leise das Radio anmachte, erwachte er garantiert und forderte energisch, wieder auf die Vierschanzentournee umzuschalten. Weder Heinz Mägerlein mit seiner coolen Frisur und seinen Kalauern („Sie standen an den Hängen und Pisten“) noch Helmut Recknagel oder Björn Wirkola vermochten den zum Zuschauen verdammten Kindern das Ereignis schmackhaft zu machen.

Lecker, lecker!
Das Trio Infernale der Sportschau
Schmiermaxe!

Nachdem Vater und Mutter ausgeschlafen hatten, wurde der Nachwuchs zum nächstgelegenen Café (geöffnet von 14 bis 16 Uhr) gejagt, um dort Schwarzwälder Kirschtorte, Käsetorte und ähnliche Leckereien zu holen. Ein Los, das alle Kinder teilten, denn sonntags zwischen 14 und 15 Uhr begegnete man auf der Straße fast ausschließlich Gleichaltrigen mit Kuchenpaketen. Die wenigen Erwachsenen, die man traf, waren entweder kinderlos oder steinalt. Anschließend gab es Kaffee und Kuchen, eine der wenigen Gelegenheiten, zu denen der traditionelle Tee durch den fremdartigen Kaffee verdrängt wurde.

Es folgte die ARD-Sportschau mit Ernst Huberty (dessen Frisur der von Mägerlein nicht nachstand!) oder Adi Furler (mit den beliebten Trabrenn-Veranstaltungen) und Knallern wie Derny-Rennen im Berliner Sportpalast oder Seitenwagenrennen am Nürburgring, wo der ‚Schmiermaxe‘ mit seiner Lederhose die Fahrbahn putzte. Anschließend konnte man noch einmal die spannendsten Momente der Vierschanzentournee Revue passieren lassen. Dann war es auch schon wieder Zeit zum Abendbrot und spätestens danach war einem schlecht.

Unsere Badewanne

Manchmal kam es auch vor, daß die Familie mit unserer Badewanne (Ford 17 M) einen Sonntagsausflug* in die Umgebung unternahm, nicht selten zusammen mit Verwandten oder Bekannten der Eltern. Solche Fahrten endeten in der Regel im Tierpark Jaderberg oder ähnlichen Orten, wo man sich mit wildfremden Kindern auf dem Spielplatz um die Geräte balgen mußte. Hatte man sich dann endlich einen Platz auf dem sich mit rasender Geschwindigkeit um eine starre Achse drehenden Gerät, dessen Name mir entfallen ist, gesichert, war einem spätestens nach zehn Minuten schlecht. Der von dem besorgten Eltern bestellte Kuchen („Junge, du mußt doch was essen!“) blieb danach unangetastet.

Abhotten!
Ob im Schützenhof ...
... oder der Nordsestation

Als man dann endlich soweit flügge wurde, daß man zumindest nach dem Mittagessen zum Ball der Jugend im Schützenhof oder in die Nordseestation flüchten konnte, kam es zu nervigen Auseinandersetzungen mit der Mutter, die sich darüber beklagte, daß man nie zu Hause bliebe, „… wo wir doch früher immer so gemütlich zusammengesessen haben!“: Ach Mutter!