Wilmersdorfer Witwen

Ja wir Wilmersdorfer Witwen verteidigen Berlin,

sonst wär’n wir längst schon

russisch, chaotisch und grün. 

Was nach uns kommt ist Schiete,

denn wir sind die Elite.‘

Wilmersdorfer Witwen,  Song aus dem Musical Linie 1

Die Uraufführung des Musicals Linie 1 fand 1986 in Westberlin statt. Der Titel bezieht sich auf die alte U-Bahnlinie 1, die damals vom Schlesischen Tor nach Ruhleben führte. Nach der Wende wurde das alles umgemodelt, wir alten Hasen kennen uns da kaum noch aus: Neue Streckenführungen, neue Bahnhofsnamen … Das Musical war außerordentlich erfolgreich, wurde verfilmt und ewig lange gespielt, vor allem im Theater am Hansaplatz. Die Helden des Musicals sind Dropouts und Freaks. 

Die besagten Witwen stehen für das konservative Bürgertum, die den modernen Zeiten ablehnend gegenüberstehen. Ihre Männer seien angeblich in der Nazi-Ära zu Wohlstand gekommen. Sie ernähren sich überwiegend von Schwarzwälder Kirschtorte. Sie seien im Milieu des Südwestens nicht selten zu finden, vorwiegend in den Cafés. Richtig ist auf jeden Fall, dass der ehemalige Stadtteil den höchsten Anteil an Witwen in Westberlin aufwies.

Mir waren die Damen egal, ich empfand weder für sie noch für die andere Seite besondere Sympathien. Was mich an Ersteren allerdings störte, war die Rolle, die sie auf dem Wohnungsmarkt spielten. In der Halbstadt mangelte es erstaunlicherweise an Wohnraum. Obwohl sie doch eigentlich an Auszehrung litt und die Alteingesessenen scharenweise abwanderten. Sie befürchteten, dass eines Tages doch noch ‚die Russen kämen’. Der Senat lockte Leute aus Westdeutschland mit allen möglichen Versprechungen (s. o.) in die Frontstadt. Und die hatten dann Probleme, ein Dach über dem Kopf zu finden. Vor allem größere Unterkünfte, die Platz für Familien oder WGs boten, waren schwer erhältlich. Während meiner Arbeit im Heizungsbau (s. u.) wurde mir auch klar warum: Riesige Altbauwohnungen in bester Lage in Wilmersdorf, Tiergarten, Steglitz und anderswo wurden von besagten Damen bewohnt! Die besaßen teilweise noch – extrem günstige – Mietverträge aus den 30er-Jahren, als sie dort mit ihren Familien eingezogen waren. Erst gingen die Kinder aus dem Haus, dann starb der Mann und die Mieterin war schließlich allein in ihrem Riesendomizil.

So erlebte ich nicht selten, dass wir in einer Sechszimmerwohnung nur in ein, zwei Zimmern Heizung einbauten. Die restlichen Zimmer dienten als ‚Sommerresidenz’. Und die Altmieter waren nicht für Geld und gute Worte zu bewegen, in eine kleinere Wohnung zu ziehen. Und so hieß es sich Samstagnacht zum Bahnhof Zoo zu begeben und unter der Eisenbahnbrücke die Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost (Motte) zu kaufen. Und als Erster morgens anrufen! Klappte leider nur in den seltensten Fällen, denn sehr viele Angebote gingen unter der Hand weg. Klar konnte man in Buckow oder Gropiusstadt etwas finden, aber wer wollte da schon wohnen? Und wer fährt schon gern mit dem 92er eine Stunde bis Hermannplatz und anschließend mit der U-Bahn noch mal eine Stunde zur Arbeit… So blieben für arme Neuankömmlinge wie mich nur die Bruchbuden übrig. Und selbst deren Vermieter waren noch wählerisch… Eine Alternative zu den Bruchbuden waren die vielen leer stehenden Fabrikräume aus jenen Zeiten, als die Industrie noch boomte. Oder Ladenwohnungen, wo man es sich in ehemaligen Fleischerläden oder sonstigem so weit wie möglich gemütlich machte. Und genau so begann meine ‚Wohnungskarriere’ in Berlin!