Pe Tü und das CVJM-Zeltlager

Becken frei! Der Vater kommt!

Hermann Tüngerthal, auch genannt Paster Tingeltangel oder kurz PeTü war ein Ratsherr der CDU und beliebter Geistlicher mit rauer Stimme. Bei Konfirmandenprüfungen gefürchtet für seine hinterhältigen Fragen („Wie heißt der Sonntag nach Lätare?“). Auch außerhalb seiner kirchlichen Pflichten war T. ein gewitztes Kerlchen. In dem von ihm organisierten Zeltlager des CVJM in Wildflecken/Rhön wurde jede Woche das gepflegteste Zelt des Lagers von T. persönlich ermittelt und ausgezeichnet. In der Nr. 9, unter dessen Bewohnern auch ich war, lobte der das Inspektionsteam anführende T. unsere Unterkunft über den grünen Klee. Bis er urplötzlich eine als Sitzgelegenheit dienende Plastikwanne anhob und darunter ein Haufen dreckiger Wäsche zum Vorschein kam. Statt der erhofften Siegprämie hieß es für das Zelt Nr. 9 Latrinendienst bis zum Ende des Aufenthaltes: Eine pädagogische Glanzleistung T.s!

Der aus dem Süddeutschen (?) stammende T. hatte eine tiefe Zuneigung zum feuchten Element. Im Freibad Wildflecken/Rhön beanspruchte er zuweilen das Schwimmbecken für sich allein. Sobald T. den Sprungturm betrat, rief sein treues Faktotum Aage Wendelin: Der Vater kommt! – und alle mussten das Wasser verlassen. Dem nassen Element blieb er bis ins hohe Alter verbunden und segnete konsequenterweise auf einer Schiffsreise in die Karibik das Zeitliche. Politisch gesehen waren seine Ansichten für einen Pastor nicht ganz unbedenklich, sodass es in der Gemeinde nicht selten hoch herging, wenn er mal wieder einen faschistoiden Bock geschossen hatte. Sein ganzer Stolz war das von ihm begründete CVJM-Lehrlingsheim mit angeschlossener Kapelle nahe dem Westbahnhof. Heute längst abgerissen und durch ein Altersheim (?) ersetzt.

Zeltlager! Allein der Name sagte ja schon, was einen erwartete: Ein Lager! Immerhin kein Flüchtlingslager oder Arbeitslager, aber die Richtung blieb dieselbe. Das vom CVJM Wilhelmshaven unter Federführung Pastor Tuengerthals veranstaltete Sommerzeltlager in der Rhön war für viele  jugendliche Jadestädter die einzige Möglichkeit, überhaupt einmal in die Ferien zu fahren. Gegen Zahlung eines relativ geringen Beitrages konnten Kinder und Jugendliche für drei (?) Wochen dem Alltag entfliehen. Nach tränenreichem Abschied am W’havener Bahnhof und endloser Bahnfahrt in die Rhön gelangten wir Kinder schließlich nach Bad Brückenau, von wo es mit dem Bus weiter in das Z. ging, in dessen Nähe zu meinem Erstaunen braune Kühe weideten – bis dahin kannte ich nur schwarz-weiße Exemplare dieser Tierfamilie.

 

Abfahrt zum Zeltlager, PeTü führt die Aufsicht

Aus einer zunächst bescheidenen Ansammlung von Zelten hatte sich hier nach und nach ein beachtliches Zentrum mit festen Häusern, Restaurant, Toiletten, Badehäusern und allem, was sonst noch dazugehört, entwickelt. Die Kinder wurden nach Alter und Geschlecht sortiert auf weiße Zelte verteilt, die jeweils zehn Bewohner aufnehmen konnten. Dort wurden die Schlafsäcke ausgerollt, der Pappkoffer am Kopfende platziert und fertig war die Behausung für die nächsten Wochen. Selbstverständlich musste ein Zeltsprecher gewählt werden, der Ansprechpartner für die Lagerverwaltung und seine Zeltgenossen war. Das Leben im Z. war spartanisch und von paramilitärischer Härte. Jeden Morgen und Abend musste die gesamte Lagerbesatzung zum Appell antreten. Die Bewohner der einzelnen Zelte hatten sich in Reih und Glied aufzustellen. Dann hielt PeTü eine kurze Ansprache, eventuelle Probleme wurden angesprochen und anschließend die Fahnen (die deutsche, die Wilhelmshavener und die des CVJM) gehisst (morgens) oder eingeholt (abends).

Ihr Einholen wurde von dem Trompetensolo aus Il Silenzio von Nini Rosso begleitet – von einem echten Trompeter gespielt! Eine ergreifende Szene, in der sich stets leise Wehmut in mein Herz schlich. Über das traurige Kapitel Essen im Z. hat die Zeit gnädig den Mantel des Vergessens gelegt. In Erinnerung blieben Vierfruchtmarmelade, Muckefuck mit Hängolin, Tomaten (s. u.!), Frikadellen am Sonntag und Eintopf. Wie sagte meine kleine Zeltlager-Freundin Dackma aus Berlin* so treffend?

‚CVJM Buletten: Wo keen Fleisch is, da is Fett, wo keen Fett is, da sin Schrippen – an CVJM-Buletten is nischt zu tippen!‘

Die meisten sehnten sich zwar nicht nach Hause zurück, aber Mutters Kochkünste wurden doch arg vermisst. 

*ein paar Berliner Kinder wurden immer gratis eingeladen – Solidarität mit der alten Reichshauptstadt!

Im Zeltlager wurde ich zum ersten (und hoffentlich letzten!) Mal im Leben zwangsernährt: Ich hatte eine tiefe Abneigung gegen Tomaten – noch mehr als gegen Steckrüben. Als ich mich im Z. weigerte, die zu essen, gab es Streit mit einem der Praktikanten. Der ließ mich von gewissenlosen Zelt-‚Kameraden’ festhalten, hielt mir die Nase zu, presste eine Tomate in den hastig nach Luft schnappenden Mund, den er dann zuhielt: ‚Friss oder stirb!’ im wahrsten Sinne des Wortes! Mit den Tomaten machte das Opfer später seinen Frieden, nicht aber mit dem Zeltlager! Für die Verletzung der Lagerdisziplin wurden drakonische Strafen verhängt. Die Delinquenten wurden erst mal von PeTü vor versammelter Mannschaft zusammengeschissen und dann die Strafmaßnahme öffentlich verkündet: Marterpfahl, Fegen des Lagerplatzes oder gar Latrinendienst!

Diese Latrinen (sie wurden später geschlossen und durch feste Bauten ersetzt) bestanden aus Donnerbalken mit Scheißgruben, in denen es von Nacktschnecken nur so wimmelte – ekelerregend! Immerhin gab es Türen (natürlich mit ausgesägten Herzen), die man sogar von innen verriegeln konnte – ganz im Gegensatz zu vielen Klos, die ich in China kennenlernte, wo noch Jahrzehnte später ähnliche Zustände herrschten. In der Z.-Latrine erlitt ich den Schock meines Lebens: Während ich eines Tages friedlich auf diesem Ort des Schreckens saß, kniff mir plötzlich von unten jemand in den Arsch! Ein Nachbar hatte sich einen Spaß gemacht … Wäre fast vor Schreck in die Scheiße gefallen, denn jeder kannte damals den Spruch: ‚Auf jedem Scheißhaus haust ein Geist, der jeden, der zu lange scheißt, von unten in die Eier beißt!’

Die ‚Betreuung’ der Kinder und Jugendlichen hatten sog. Lehramtskandidaten übernommen, die im Z. ein Praktikum absolvierten. Zurückschauend kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Betreuer vornehmlich aus Kreisen von Verbindungsstudenten oder Schlimmerem rekrutiert wurden. Die hatten natürlich alle ‚gedient‘! Nie vergessen werde ich die Nacht, als ich mit meinen Zeltgenossen ‚Wache’ am Lagerfeuer hielt und sich plötzlich aus dem Dunkel ein Betreuer mit Fahrtenmesser quer im Mund auf einen der Wächter warf: ‚Im Ernstfall wärt ihr jetzt alle tot!’, rügte er die nachlässigen Nachtwächter. Da waren die amerikanischen Soldaten aus der nahe gelegenen Kaserne schon netter, wenn die sich auch vornehmlich für die weiblichen Lagerbewohner interessierten. Ebenso wie die sehr rustikalen Dorfbewohner (ich erinnere mich an Mucki und seinen Kumpel Kalbskopf). Immerhin ergaben sich zahlreiche Gelegenheiten, sein Schulenglisch am lebenden Objekt zu erproben; die Verständigung mit den Dorfbewohnern war manchmal schwieriger!

Es sei jedoch an dieser Stelle nicht verhehlt, dass sich auch Liebeshändel zwischen Lagerinsassen ergaben. An den freien Nachmittagen knutschte ich so manche Mädchenzeltbewohnerin ab, obwohl das angesichts des christlichen Hintergrundes nicht gern gesehen war. Ein bedeutendes Element des Lagerlebens war der gemeinsame Gesang. PeTü besaß eine beachtliche Sammlung von Mundorgeln. Die Lagerbewohner mussten beim Lagerfeuer und anderen Gelegenheiten die Lieblingslieder von PeTü und seiner Schwester Lotte singen: Heia Safari, Wir lagen vor Madagaskar, Alle die mit uns auf Kaperfahrt gehen usw.

Der Höhepunkt des Lageraufenthaltes kam kurz vor dessen Ende: Das große (kleinere hatten wir schon vorher gemacht) Geländespiel! Zu Beginn dieses mehrtägigen Vergnügens erhielt jeder Teilnehmer (alle mussten mitmachen!) eine Büchse Graubrot aus Bundeswehrbeständen, dazu gab es eine Dose Leberwurst, und natürlich musste auch der Schlafsack und Wäsche zum Wechseln mitgenommen werden – halt wie bei der Wehrmacht. Jeder Teilnehmer erhielt einen ‚Lebensfaden‘, der am Oberarm befestigtwerden musste.

Traf man auf feindliche Truppen, musste man versuchen, ihn den Gegnern abzureißen. Der war dann tot und durfte ins Lager zurückkehren. Mangels Kommunikationsmitteln verlor das Ganze bald seinen Zusammenhang, und zahllose Versprengte irrten in den Wäldern der Umgebung herum. Selbst PeTü in seinem fahrenden Feldherrnhügel (einem alten Mercedes 180 D), der auch als Sanka diente (Schwester Lotte immer dabei) blickte nicht mehr durch. Alle machten drei Kreuze, als das Geländespiel endlich vorbei war.

‚Fighting soldiers from the sky, fearless men who jump and die,

men who fight by night and day, the brave men of the green beret!

Silver wings upon their chests, these are men, Wilhelmshaven’s best,

one hundred men we’ll test today and only three win the green beret!’

Irgendwo im fremden Land
Ziehen wir durch Stein und Sand

Fern von zuhaus und vogelfrei
Hundert Mann, und ich bin dabei

Tagein, tagaus
Wer weiss wohin

Verbranntes Land
Und was ist der Sinn?

Ja, so waren WIR! Natürlich hatten die Feinde rote Lebensfäden und wir – die Guten – blaue. Das war ein Spaß: Wo immer wir auf den Feind stießen, massakrierten wir ihn nach Belieben. Weibliche Hilfstruppen erhielten eine ‚Sonderbehandlung‘ (Abknutschen), bevor wir sie kaltmachten. Unser einziger ernst zu nehmender Gegner war die KGB-Sondereinheit von Major Fedorow oder so ähnlich, aber auch die mischten wir auf. Da die Angehörigen der blauen Partei in der Regel älter waren und unsere Feinde den nötigen Kampfgeist vermissen ließen – wer wollte schon Kommunist sein? – gingen die Geländespiele immer im Sinne Petüs aus. ‚Selbstmord’ d. h.  Abreißen des eigenen Lebensfadens war streng verboten, noch schlimmer war ‚Selbstverstümmelung’! Und Simulanten hatten es auch nicht einfach: Schwester Lotte befahl barsch: „Mund auf!“, dann musste man „Ahh!!“ sagen und der Befund fiel fast immer gleich aus: ‚Feldtauglich!’. Der Anführer unserer Elitetruppe war übrigens Heiko Nickel, der es als Sänger der ‚Sorrows‘

 

an der Seite Wolfgang Roths zu lokalem Ruhm in W’haven brachte. Ohne Wissen des Chronisten blieb er dem Zeltlager auch weiterhin verbunden: Wie groß war mein Erstaunen, als ich mehr als 40 Jahre später hörte, dass er die Gastronomie dort übernommen hatte und noch immer in der Rhön, genauer gesagt im schönen Bad Brückenau lebte, nicht weit von Wildflecken entfernt. Ja, und dann war es auch schon wieder Zeit für die Heimfahrt nach Wilhelmshaven. Am letzten Abend wurden noch die Gesichter der Jüngeren und der Mädchen mit Schuhcreme oder Zahnpasta eingeschmiert und ab ging’s zurück in die windige Heimat. Und wohin führte mein erster Weg? Natürlich zur Bratwurstbude am Bahnhof, dorthin, wo es die beste Bratwurst der Welt gab! Und dann die Krönung am nächsten Morgen: Das erste Frühstück daheim – endlich wieder vernünftiger Tee (Bünting Grünpack), dazu Brötchen von Bäcker Klose mit herrlichem Grafschafter Goldsaft oder gar Kunsthonig: ‚Mmmmhhh, lecker!’