Der Lottokönig von Wittmund
LOTTO war die große Hoffnung all jener, die sich vom Leben benachteiligt fühlten. An jedem Wochenende war der L.schein der Schlüssel zum Glück. Bei Bude Wenke an der Marktstraße standen die Leute (darunter auch ich, der sich für den kleinen Dienst eine Wundertüte mitnehmen durfte) Schlange, um noch pünktlich ihren Schein abzugeben. Wenn die Erinnerung mich nicht trügt, kostete ein Kästchen nur 50 Pfennig. Wie einfach schien es, sechs Richtige aus 49 anzukreuzen – und wie schwer war es dann … Immer wieder zogen die Waisenkinder, die vor Erfindung der L.sendung im Fernsehen die Glücksfeen spielten, die falschen Zahlen! Und was hatte man nicht alles ausprobiert: Geburtsdaten sämtlicher Familienmitglieder, Kreuzchen in Form geheimnisvoller Muster, vom Wahrsager vorhergesagte Zahlen, geträumte Zahlen – es half nichts! Selbst der Einsatz des familieneigenen Piepmatzes Hansi, der ratlos über den Schein trippelte, erbrachte keine Fortschritte… Kein Wunder bei einer Gewinnchance von 1 : 140 Millionen für den Sechser! Zwei Richtige schaffte man fast immer, drei ab und an (Gewinnsumme: Drei bis fünf DM). Vier Richtige waren schon selten, da gab’s immerhin 50 Mark oder mehr. Aber darüber hinaus …
Und dann kam der große Tag: Der Vater hatte fünf Richtige angekreuzt! Das war eine Aufregung! Das ganze Wochenende wurde mit Pläneschmieden verbracht. Was sollte man nur alles mit dem Geld machen? Fast hätte es schon Streit gegeben. Am Montag dann die Enttäuschung: Gewinnsumme 800 Mark! Unter den Glückszahlen war die 19 gewesen – und die kam dummerweise in fast allen Geburtsdaten vor und war von Zigtausenden angekreuzt worden! Zahlreiche L.spieler griffen in ihrer Verzweiflung auf dubiose Angebote zurück:
Bei Jerry Cotton konnte man die L.zahlen gar ausrechnen lassen – für nur 55 DM durfte man ein Jahr lang jede Woche sechs Richtige ankreuzen! Später wurde es noch einfacher, denn da gab es L.scheine, bei denen man bis zu 49 Zahlen ankreuzen konnte. Aber es muss ein Trick dabei gewesen sein, denn der Millionengewinn blieb trotzdem aus. Immerhin, man kannte ja ein paar, die es geschafft hatten. So z. B. den Vater von Willy Martin. Und was tat der mit dem Geld? Er kaufte sich eine Kohlenhandlung, die bald wieder Pleite ging, weil inzwischen jeder Ölheizung hatte…
Und dann – eigentlich an erster Stelle zu nennen – der frühere Artist und spätere Hausierer Walter Knoblauch, der L.könig von Wittmund, dessen Leben sogar mit Arnim Dahl (siehe K.-W.-Brücke) in der Hauptrolle verfilmt wurde (Wegen Reichtum geschlossen). Welturaufführung übrigens im CAPITOL Wilhelmshaven! Der Kerl verballerte innerhalb kurzer Zeit 800.000 Mark (damals ein Haufen Geld) und wurde bundesweit bekannt, als er in Wittmund ein Hotel kaufte, in dem er seine Hochzeit feierte. Um ungestört zu sein, hängte er ein Schild an die Tür: ‚Wegen Reichtum geschlossen!‘ Seine ausführliche Geschichte fand sich vor dreißig Jahren im Ostfriesenmagazin 1/1991, S. 86 ff.: ‚Wie gewonnen, so zerronnen’. Offenbar hatten die meisten L.könige ihren Reichtum sinnlos verjubelt, aber jeder war sich sicher: Das passiert mir nicht!
Leider hatten nur wenige Gelegenheit, das zu beweisen … Meine Mutter begegnete einst dem L.könig von Wittmund leibhaftig: Beim Kaufmann Hauke an der Ecke wurde sie gerade bedient, als ein abgerissener Mann hereinkam. Er schob sie beiseite, legte 50 Pfennig auf den Tresen und orderte eine Packung Supra. Als sie protestierte, schnauzte sie der Penner an, ob sie denn nicht wisse, mit wem sie es zu tun habe? Er sei der Lottokönig von Wittmund! Das war ein schlagender Beweis für Mudders Theorie: Geld verdirbt den Charakter! Jede andere Kundin hätte das vielleicht schweigend hingenommen. Aber nicht meine resolute, gut bepackte Mutter! Sie schubste den Typen beiseite, und nur weil Knoblauch früher Artist gewesen war, konnte er verhindern, dass er lang hinknallte. Denn schließlich war sie nicht irgendwer! Nein, sie war die angesehenste Kundin bei Hauke, Ehegattin eines Großtankstellenbesitzers! Deren Bedeutung man schon daran ablesen konnte, dass sie im Sparkasten der Volksbank (wo immer das Wechselgeld reingeworfen wurde) das Fach Nr. 1 hatte.
Na, eine kleine Einschränkung muss ich machen: Noch angesehener als sie war die Frau des in unserer Straße ansässigen Allgemeinmediziners Dr. Hesse! Wenn die reinkam, nahm die Stimme der Ladenbesitzerin einen süßlichen Klang an, und sie flötete mit verzücktem Gesicht: „Guten Tag Frau Dr. Hesse!“ Obwohl die natürlich auch nur eine Hausfrau war, wie alle anderen Kundinnen bei Hauke. Aber so war das damals: Der Doktortitel (und das Ansehen) des Ehegatten ging automatisch auf die Dame des Hauses über! Natürlich gewährten ihr alle gern den Vortritt, denn man konnte ja nie wissen: Wenn die ihrem Mann steckte, dass eine Kundin bei Hauke sie nicht vorgelassen habe, ließ der einen im Falle eines Falles womöglich verbluten! Und da die Hesses reich waren, brauchten sie natürlich auch kein Sparfach!